Über was mögen die zwei Damen wohl gerade plauschen? Die Einkaufstaschen am Arm, stecken sie die Köpfe zusammen. So wie die Ältere grinst, dreht sich das Gespräch wohl kaum um den Preis für Rindfleisch. Die beiden wähnen sich unbeobachtet, und doch nimmt sie einer ins Visier.
Der Hobbyfotograf Emil Mayer verwendete ab 1905 einen Sucher, mit dem er unbemerkt Bilder machen konnte. Damit begab sich der fotonarrische Rechtsanwalt in Wiener Gassen auf die Pirsch. Seine Schnappschüsse zählen zu den Highlights der Ausstellung „Augenblick! Straßenfotografie“, die Frauke Kreutler und Anton Holzer im Wien Museum MUSA kuratiert haben.
Auswahl als Mammutaufgabe
Der jetzigen Schau ging eine Mammutaufgabe voran. Das kuratorische Team sichtete nicht weniger als 75.000 Fotografien aus dem hauseigenen Bestand. „Wir hatten es mit unzähligen Schubladen voll klimatisch verpackter Objekte zu tun. Mehr als 70 bis 100 Bilder pro Tag schafft man da nicht“, beschreibt Holzer den mühsamen Prozess, die riesige Fotokollektion zu durchsuchen.
Insgesamt 180 Exponate hängen nun in der Schau, inszeniert als Clash von alt und neu. „Wir verfolgen einen weiten Begriff von Straßenfotografie“, betont Kreutler, die in so unterschiedlichen Sammlungskategorien wie „Topografie“, „Architektur“ und „Pressefotografie“ fündig wurde.
Sammlung ab 1866
Wie Geister erscheinen Passantinnen und Passanten auf den frühesten Wien-Ansichten. Die langen Belichtungszeiten verwandelten die Vorbeikommenden in nebelige Schleier. Ab 1860 rückten die Fotografen mit schweren Kameras und mobilen Dunkelkammern aus, um den Wandel der Stadt – etwa durch den Abriss der Basteien – festzuhalten.
Das 1887 gegründete Historische Museum der Stadt Wien sammelte diese Dokumentationen zeitgleich mit ihrem Entstehen. Es mische sich aber immer wieder der Zufall ein, betont das Kuratorenduo. Und genau diese Details machen die Schau so reizvoll. Etwa, wenn der Stadtfotograf August Stauda 1910 das Menschengetümmel in der Judengasse einfängt und über den Köpfen ein Schild mit dem Namen „Aufrichtig“ hängt.
Wiener Typen
Die Schau wimmelt von sogenannten „Wiener Typen“, wie sie bereits seit dem 16. Jahrhundert populär waren. Die Marktfrau stellt so einen stets wiederkehrenden Typus dar. Moritz Nähr, dessen Porträts von Gustav Klimt oder Ludwig Wittgenstein zu Ikonen wurden, hielt gerne den alten Naschmarkt auf der Freyung fest.
Keines seiner Fotos ab 1880 kommt ohne Gemüsehändlerin mit Kopftuch und Schürze aus. Erich Lessing porträtierte 1953 einen alten Dienstmann, der auf einer Kiste sitzt und das Straßentreiben beobachtet, der Fotograf projiziert so gleichsam die eigene Rolle auf sein Sujet.
Gummibaum im Kinderwagen
Die Wiener Straßenfotografie sei von Nostalgie („Alt-Wien“) ebenso wie von Ironie geprägt, betont Kurator Holzer. Oft verbindet sich auch beides, wie in der legendären „Straßenszene in Unterdöbling“ von Franz Hubmann, in der eine Frau einen Gummibaum im Kinderwagen transportiert. Farbfilm wurde für Wiener Straßenfotografie selten verwendet, auch Aufnahmen des Nachtlebens fehlen fast ganz.
In mehr als 150 Jahren Fotogeschichte richtet sich der Fokus immer wieder auf die anekdotischen Wiener Orte per se: das Kaffeehaus und den Prater. Den wenig bekannten Künstler Leo Jahn-Dietrichstein interessierten die Kleinen, die im Schatten des Riesenrads und auf den Straßen spielten. Von ihm stammt auch das Plakatsujet der Schau, das – wie aus der Hüfte geschossen – einen Bub samt Frau Mama zeigt.
Spiegelungen und Reklameschriften
Generell lässt sich beobachten, dass Experimentierlust und Freiheit im heimischen Kameraschaffen ab den 1930er Jahren aufblühen. Visuelle Phänomene wie die Spiegelung auf nassem Asphalt und Schatten gewinnen ein Eigenleben, etwa auf dem Foto „Unterwegs auf dem Michaelerplatz“ des bekannten Sportreporters Lothar Rübelt.
Es tauchen ungewohnte Perspektiven und Bildausschnitte auf, Oberflächen gewinnen ein Eigenleben. Auch die Schriften von Reklamen und Straßenschildern werden zu beliebten Motiven. Meisterhaft setzte Elfriede Mejchar in Szene, was auf Litfaßsäulen zu lesen ist. Die Fotografin (1924-2020) arbeitete für das Bundesdenkmalamt und hielt österreichweit Kulturgüter fest. Daneben schuf sie ein eindrucksvolles Werk, in dem sie das Nebensächliche und die Ränder der Metropole sichtbar machte.
Urbane Schattenseiten
In der Zwischenkriegszeit wuchs auch eine sozialdokumentarische Strömung innerhalb der heimischen Fotografie, die Armut und Ausgrenzung anprangerte. Magnum-Mitglied Ernst Haas widmete sich dem Schicksal der Kriegsheimkehrer. Die am Bauhaus geschulte Kommunistin Edith Suschitzky (später: Tudor-Hart) brachte ihre Sozialkritik mit Bildern einer arbeitslosen Familie oder eines Händlers, der eine Handvoll Zitronen feilbietet, zum Ausdruck.
An der NS-Zeit, in der die Stadt von Propaganda überzogen wurde, streift die Schau nur an. „Sieg um jeden Preis“ verkündet ein Schablonengraffiti auf einem Foto von 1945. „Es fällt auf, dass die Wiener Straßenfotografie Schwarz-Weiß bevorzugt und früh schlafen geht“, sagt Kreutler beim Ausstellungsrundgang, der nur wenige Farbfotos und kaum Aufnahmen des Nachtlebens bietet.
Diese Bilder stechen dafür umso mehr hervor, etwa Didi Sattmanns Burschentrio, das in „Seestadt Aspern“ in den blaugrünen Badesee hüpft, oder die ekstatischen Konzertbesucher „Beim Rolling-Stones-Konzert in der Wiener Stadthalle“, die Christian Skrein 1965 festhielt. Die Fotografin Barbara Pflaum erwischte Lederjackenträger vor dem Outlaw-Konterfei von Schauspieler Marlon Brando, Titel: „Besucher einer Ausstellung über den angeblichen Verfall der Jugend“, 1958.
Wettwerb auf Instagram
Buntheit und jungen Elan bietet die Ausstellung im Foyer, wo die Beiträge zum aktuellen Instagram-Wettbewerb des Wien Museums hängen. Unter dem Hashtag „#Augenblick2022“ kann man an diesem Contest teilnehmen. Erfreulicherweise hat Wien eine lebendige Instagrammer-Szene, die während der Pandemie enorm gewachsen ist.
Die ausgewählten Bilder werden als hochwertige Drucke präsentiert. „Die Fotos sollen nicht nur ein schneller, zeitgenössischer Aufputz unserer Ausstellung sein“, betont Holzer zu der bis jetzt getroffenen Auswahl. Bereits 3000 Beiträge wurden gepostet. Den besten Wiener Straßenfotos winken Ausstellungstickets und -kataloge als Preise.