Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau
AP/Alexander Zemlianichenko
Berichte

Rumoren in der russischen Armee

Nach weiter ausbleibenden durchschlagenden Erfolgen in der Ukraine scheint es im russischen Militär zu rumoren. Nach Informationen des britischen Geheimdienstes wurden mehrere hochrangige Kommandeure ihres Postens enthoben. Sündenböcke für die Lage verantwortlich zu machen würde aber die russische Armee weiter schwächen, glaubt der Geheimdienst. Zuvor waren von russischer Seite erstmals öffentlich Schwierigkeiten und Fehler eingeräumt worden.

Des Amtes enthoben wurde laut den Angaben der Kommandant der russischen Schwarzmeer-Flotte, Igor Ossipow. Die Schwarzmeer-Flotte hatte Mitte April ihr Flaggschiff „Moskwa“ verloren – nach ukrainischer Darstellung durch Beschuss mit zwei Raketen. Zudem wurde nach britischen Angaben der russische Generalleutnant Sergej Kissel nach erfolglosen Angriffen in der Region Charkiw abgelöst. Von russischer Seite gab es dafür keine Bestätigung.

Über die angebliche Entlassung der beiden hochrangigen Militärs hatten kürzlich schon der ukrainische Geheimdienst und anschließend Medien wie der Sender Hromadske berichtet. Dort war von weiteren hochrangigen Kommandanten die Rede, die den Platz hätten räumen müssen: Wladislaw Jerschow, Kommandeur der Sechsten Armee, der Generalmajor Arkadi Marzojew und der für Logistik zuständige Michail Ponomarew.

Das russische Schlachtschiff Moskwa
AP/Russisches Verteidigungsministerium/Valim Savitsky
Die gesunkene „Moskwa“ auf einem Archivbild

Druck auf Kommandeure wächst

Nach Einschätzung des britischen Geheimdiensts dürften viele russische Militärs zunehmend damit beschäftigt sein, die Verantwortung für Rückschläge von sich zu weisen. „Das wird wahrscheinlich den Druck auf die zentralisierten russischen Kommandostrukturen weiter erhöhen“, hieß es in der Mitteilung: Offiziere würden wohl zunehmend versuchen, wichtige Entscheidungen an ihre Vorgesetzten zu delegieren. Unter diesen Bedingungen werde „es für Russland schwierig sein, die Initiative wiederzuerlangen“.

Die nun offenbar abgelösten hochrangigen Offiziere sind nicht die ersten Köpfe, die ausgetauscht wurden. Schon im März wurde berichtet, dass der Abteilungsleiter des Geheimdienstes FSB für Spionage in ehemaligen Sowjetländern, Sergej Beseda, und sein Stellvertreter Anatoli Boljuch abberufen wurden. Beseda soll nach Medienberichten mittlerweile im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses sitzen.

Gerüchte über Generalstabschef und Putin-Einmischung

Spekulationen gibt es auch über Generalstabschef Waleri Gerassimow. Nach dem Rückzug aus Kiew bekam er das zentrale Kommando für die russischen Streitkräfte, um insbesondere die Offensive im Donbas zum Erfolg zu führen. Gelungen ist das bisher nicht. Bei der großen Militärparade am 9. Mai war er – wie Vizeadmiral Ossipow – nicht zu sehen, was Gerüchte anheizte, auch er könnte mittlerweile in Ungnade gefallen sein. Der britische Geheimdienst glaubt allerdings, dass er wahrscheinlich noch das Kommando hat.

Zerstörte Fahrzeuge der russisches Armee
Reuters/Jorge Silva
Zerstörte Militärfahrzeuge nördlich von Kiew

Allerdings berichtete der „Guardian“ kürzlich ebenfalls unter Berufung auf Geheimdienstkreise, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin mittlerweile persönlich in die Militärplanung einmischt: „Wir glauben, dass Putin und Gerassimow an taktischen Entscheidungen auf einer Ebene beteiligt sind, von der wir normalerweise erwarten würden, dass sie von einem Oberst oder einem Brigadegeneral getroffen werden“, hieß es in dem Bericht. Wie glaubwürdig das ist, ist unklar: Zu Beginn hatte es ja geheißen, Putin werde kaum über den Verlauf informiert und sei daher weitgehend ahnungslos.

Schwierigkeiten eingeräumt

In den vergangenen Tagen hatte es von russischer Seite erstmals sanfte Eingeständnisse gegeben, dass der Angriff nicht nach Plan verläuft. „Trotz aller Schwierigkeiten wird die militärische Spezialoperation bis zum Ende fortgeführt“, sagte der stellvertretende Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Raschid Nurgalijew, am Mittwoch. Trotz der Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine gehe die Operation weiter.

Der Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus, der als Diktator geltende Ramsan Kadyrow, sprach sogar von „Fehlern“ zum Start des am 24. Februar begonnen Krieges gegen die Ukraine. „Am Anfang gab es Fehler, einige Unzulänglichkeiten gab es, aber jetzt läuft alles hundertprozentig nach Plan“, meinte Kadyrow auf einem politischen Forum. Die gestellten Aufgaben würden jetzt in vollem Umfang erfüllt.

Offene Worte im Staatsfernsehen

Und im russischen Staatsfernsehen hatte am Montag ein Militärexperte die Zuschauer einer Talkshow mit einer pessimistischen Bewertung des Ukraine-Krieges überrascht. Die ukrainischen Streitkräfte seien weit von Zerfall entfernt und Russland in der Welt durch den Krieg isoliert, sagte der ehemalige russische Generalstabsoffizier Michail Chodarjonok.

Er widersprach einer Reihe von Behauptungen der russischen Staatspropaganda, die er als „Info-Beruhigungstabletten“ kritisierte. „Das größte Problem unserer militärisch-politischen Lage ist unsere völlige geopolitische Isolation“, sagte der Oberst. Moskau müsse daher einen Ausweg aus der Lage finden, „dass die ganze Welt gegen uns ist“. Chodarjonoks Aussagen stießen auch deshalb auf so großes Interesse, weil kritische Stimmen in Russland seit Kriegsbeginn weitgehend ausgeschaltet wurden.

Allerdings dürfte nach der Sendung jemand ein ernstes Wort mit ihm geredet haben. Am Mittwoch war er wieder im staatlichen Fernsehen zu Gast und zeigte sich dort überzeugt, dass Russland die Ukraine militärisch schlagen werde. Zudem empfahl er, die von den USA jüngst gelieferten Haubitzen vom Typ M-777 besonders ins Visier zu nehmen. Zu glauben, dass die Ukrainer einen Gegenangriff starten könnten, sei „eine große Übertreibung“.

Desaster bei Flussüberquerung

Als möglicher Auslöser der Kritik und auch der Entlassungen gilt ein völlig verunglückter Vorstoß der russischen Armee am 11. Mai: Bei dem Versuch der russischen Truppen, den Fluss Siwerskyj Donez im Donbas zu überqueren, verloren die Russen bei einem ukrainischen Gegenangriff offenbar alle gepanzerten Fahrzeuge einer taktischen Bataillonsgruppe. Dabei fielen laut Berichten auch mehrere hundert russische Soldaten.

Laut „New York Times“ gab es danach scharfe Kritik prorussischer Militärblogger, die auch in Russland ein großes Publikum haben. Von „Dummheit“ sprach einer, ein weiterer schrieb, die Aktion sei nicht mehr „Idiotie, sondern bereits direkte Sabotage“. Gefordert wurde ein Köpferollen der Verantwortlichen.

Kaum Frontverschiebungen erwartet

Schnelle russische Erfolge sind in nächster Zeit laut Militärexperten nicht zu erwarten. Zuletzt musste man sich aus der Umgebung von Charkiw zurückziehen. Der vermutete Plan zu Beginn der Offensive im Donbas, die ukrainischen Streitkräfte im großen Stil einzukesseln, gilt als gescheitert. Zuletzt konnte die russische Armee zwar mehrere kleine Orte einnehmen, große Frontverschiebungen gab es aber nicht. Und Experten erwarten für die nächsten Wochen weiter einen Stellungs- und Abnützungskrieg.

Ukrainische Streitkräfte neben Überrresten eines russischen Panzers
AP/Bernat Armangue
Auch die Umgebung von Charkiw wird wieder von der Ukraine kontrolliert

Die Ukraine werde die Zeit wohl nutzen, die neu aus dem Westen gelieferten Waffen in ihren Verteidigungsverbund zu integrieren und Schulungen daran vorzunehmen, heißt es. Und Russland muss nach schweren Verlusten möglicherweise seine Kräfte neu formieren. Dabei steht man allerdings vor dem Problem, nicht endlos Kräfte als Nachschub zur Verfügung zu haben, meinen Experten. Schon jetzt leide die Moral der Truppe sehr – und das sei kein Zufall, schrieb zuletzt „Foreign Affairs“: Russland behandle seine Soldaten notorisch schlecht, auch der Umgang mit den Angehörigen von Gefallenen schrecke Männer ab, sich rekrutieren zu lassen.

Proteste gegen Rekrutierungen in „Volksrepubliken“

Doch damit nicht genug. In den von Russland annektierten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk regt sich laut ukrainischen Quellen immer mehr Widerstand gegen die Zwangsrekrutierung von Männern. In den prorussischen Gebieten werden Männer bis 60 Jahre zum Kampf verpflichtet. Schon in den vergangenen Wochen hatte es Meldungen gegeben, wonach sich Männer verstecken würden, um nicht eingezogen zu werden: Dem Vernehmen nach werden die Männer teilweise mit museumsreifen Waffen an die Front geschickt. Nun gibt es Berichte, wonach es in Donezk und Luhansk bereits Proteste gibt – auch weil keine Entschädigungen an die Familien von Verletzten und Gefallenen gezahlt werden.