Radprofi Kiesenhofer

Glücksformel einer Einzelkämpferin

Der Olympiasieg von Anna Kiesenhofer im Vorjahr war eine Sensation. Die Geschichte von der Radsportlerin, die erfolgreiche Mathematikerin ist, ging um die Welt. Bei einer Ausfahrt in ihrer neuen Schweizer Heimat zeigt sich: Das Doppelleben ist vorbei, Kiesenhofer konzentriert sich auf das Fahrrad. Mathematische Akribie und Ehrgeiz sind aber geblieben, im Sport und bei der Suche nach dem Glück.

Kiesenhofer wohnt seit Anfang des Jahres mit ihrem Freund Olivier in der kleinen Ortschaft Riddes im Kanton Wallis. Die Trainingsbedingungen dort sind ideal. Das Rhonetal ist lang und flach, links und rechts liegen Bergketten um bekannte Skiorte wie Crans Montana und Veysonnaz. „Man hat hier buchstäblich die Qual der Wahl, weil es viele harte Anstiege gibt. Zugleich kann ich aber gut meine Spezialdisziplin, das Einzelzeitfahren, trainieren“, sagt Kiesenhofer. „Mir gehen hier die Strecken nicht aus.“ Beim ORF-Besuch zeigt sich ein weiterer Vorteil: Das Klima nahe dem Genfersee ist mild, „hier kann man 360 Tage im Jahr draußen trainieren“.

Kiesenhofer stimmte einer gemeinsamen Ausfahrt zu und stellte dafür sogar eines ihrer Rennräder zur Verfügung. Im Verlauf des Gesprächs erklärt sie detailreich, warum Schmerzen im Spitzensport auch Freunde sein können – und warum die Goldmedaille von Tokio in gewisser Weise eine konsequente Belohnung war.

Rad von Anna Kiesenhofer
ORF
Der goldene Helm erinnert Kiesenhofer an ihren Olympiasieg

Wissenschaftliches Mindset bleibt

Lange hat sie ein Doppelleben geführt als Mathematikerin und Sportlerin, seit Herbst des Vorjahrs ist die Sache entschieden – zumindest vorerst. Bis zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris ist Kiesenhofer nun Radprofi. Und zwar nicht wie in der Branche üblich als Teil eines Profiteams, sondern als Einzelsportlerin. Mannschaftlich verankert bleibt sie beim Team Cookina Graz – eine Voraussetzung, um überhaupt an den Start von Rennen zu gehen. Sie habe eine Reihe von interessanten Profiteamangeboten nach Tokio bekommen, ihre Unabhängigkeit sei ihr aber wichtiger, sagt Kiesenhofer. Großes Ziel ist das Einzelzeitfahren in Paris.

Ihre Projekte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) hat Kiesenhofer abgeschlossen. Das heißt aber nicht, dass Mathematik keine Rolle mehr in ihrem Leben spielt. „Ein wissenschaftliches Mindset werde ich immer haben. In der Art und Weise, wie ich den Sport mache, steckt immer Mathematik darin.“ Konkret äußert sich das etwa im Lesen sportwissenschaftlicher Fachartikel – einem Hobby, das nun Teil ihres Berufs geworden ist.

Der zunftübliche Jargon und die für Nichtfachleute monströs wirkenden mathematischen Formeln dieser Artikel schrecken sie nicht ab – im Gegenteil. „Die Autoren stellen das oft irrsinnig kompliziert dar, aber für Mathematiker ist das eher einfach“, so Kiesenhofer.

Aerodynamik und Rollwiderstand

Im Mittelpunkt ihres sportwissenschaftlichen Interesses stehen Trainingslehre, physiologische Mechanismen und alles, was das Material betrifft – „also Aerodynamik, Optimierung von Luft- und Rollwiderstand usw.“. Ihr mathematischer Seelenanteil drückt sich auch auf dem neuen Rahmen aus. Darauf lackiert ist nicht nur ihr Motto „Dare to be different“ (das sie nach dem Olympiasieg etwa gegenüber CNN erklärte), sondern auch zwei Formeln, die bedeutsam für ihr akademisches Leben waren.

Mathematische Formel auf dem Rahmen der Olympiasiegerin Anna Kiesenhofer
Anna Kiesenhofer
Motivation auf dem individuellen Rahmen: Zwei Formeln, die für Kiesenhofers akademische Karriere wichtig waren

Noch wichtiger als die neuesten Sportstudien sei aber die Analyse des eigenen Trainingstagebuchs, sagt Kiesenhofer. Denn darin ist sie quasi die einzige und somit zuverlässige Probandin. Wie in der Wissenschaft üblich kommen die Studien außerdem oft zu nicht eindeutigen Aussagen. Das betreffe etwa den Wert von Massagen nach einer harten Trainingsrunde. „Nach dem Training ins Auto steigen und irgendwohin fahren, um mich massieren zu lassen, stresst mich eher. Da bleib ich lieber daheim und knete mit dem Massageroller ein bisschen die Beine.“

Wollte immer die Beste sein

Kiesenhofer wollte schon sehr früh die Beste sein. „Schon mit vier habe ich Puzzles für Achtjährige gelöst, in der Volksschule wollte ich am schnellsten Gedichte auswendig lernen“, sagt sie und ergänzt: „Eigentlich ein absurdes Ziel. Weil wenn jeder der Beste sein will, kann nur einer glücklich werden.“

Überdies lehrt die Welt da draußen, dass es immer einen gibt, der besser ist. Gezeigt hat sich das etwa, als sie ihren Mathematik-Master an der Universität Cambridge gemacht hat. „Ich hatte auch dort den Anspruch an mich selbst, die Beste zu sein. Aber egal, wie lange ich dort in der Bibliothek gesessen bin und gelernt habe – es war unmöglich. Das hat mich paralysiert und ein bisschen zur Verzweiflung gebracht.“

Radsportlerin Anna Kiesenhofer
APA/AFP/Michael Steele
Auf dem Weg zur Olympiasensation – Kiesenhofer in Tokio am 25. Juli des Vorjahres

Zu hohe Ansprüche an sich selbst lähmen

Irgendwann habe sie einen wichtigen Bestandteil dessen gelernt, „wie Glück geht. Die Anforderungen müssen im Einklang stehen mit den Fähigkeiten.“ Das betreffe die Wissenschaft ebenso wie den Sport. Wenn die Anforderungen zu hoch sind, kann das lähmen und unglücklich machen. Kiesenhofer ist deshalb froh, das Ziel, Olympiasiegerin zu werden, nicht schon vor zehn Jahren gehabt zu haben. „Damals war ich noch nicht bereit.“

Im Jahrzehnt vor Tokio hat sie sich Schritt für Schritt kleinere Ziele gesetzt, die erreichbar und mit Erfolgserlebnissen verknüpft waren. „Ich habe immer versucht, die beste Version von mir selbst zu sein.“ So ist sie immer stärker geworden. Mit dem harten und oft schmerzhaften Training vor den Olympischen Spielen hat sie sich dann in den Zustand gebracht, bereit zu sein – und sich letztlich für den Aufwand belohnt.

Aufschwung des Frauenradsports

Kiesenhofers Olympiasieg fällt in eine Zeit, in der der Frauenradsport endlich ernst genommen und medial sichtbar wird – zumindest in den einschlägigen TV-Spartensendern und Onlinekanälen. Heuer wird es zum ersten Mal im selben Jahr eine Tour de France und einen Giro d’Italia für Frauen geben, auch die meisten Eintagesklassiker stehen mittlerweile auf dem Programm.

Dass sie als Einzelprofi an all diesen Rennen nicht teilnehmen kann, ficht Kiesenhofer wenig an. „In Gruppen ein Rennen zu bestreiten kann ich überhaupt nicht leiden, und auch im Training fahre ich oft alleine oder nur mit wenigen guten Freunden.“ Bestes und für alle sichtbares Beispiel war das Olympiarennen, bei dem sie sich unmittelbar nach dem Start mit vier anderen vom Hauptfeld absetzte und die letzten 40 Kilometer solo ins Ziel fuhr.

Radsportlerin Anna Kiesenhofer
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Trainingsidyll einer Einzelkämpferin: Riddes im Kanton Wallis

Überzeugte Einzelkämpferin

Als im April das berüchtigte Kopfsteinpflasterspektakel zwischen Paris und Roubaix ausgetragen wurde, absolvierte sie in den Schweizer Bergen ein Intervalltraining. „Obwohl ich gerade ein bisschen gelitten habe, dachte ich: Was für ein Glück, dass ich hier allein meine Intervalle fahren darf, ohne Angst vor einem Sturz oder dass mich da wer anrempelt – ich war so glücklich!“

Kiesenhofer begleitet ihre Kolleginnen auch nur gelegentlich medial. „Ich freu mich natürlich, dass der Sport populärer wird. Ich habe keinen Fernseher, schaue aber auf YouTube die wichtigsten Abschnitte an. Ich komme mir schlecht vor, wenn ich anderen Leuten beim Schuften zuschaue, da lese ich lieber etwas Vernünftiges oder geh selber trainieren.“