Frau in Odessa über eine Pfütze
Oleksandar Gemanov / AFP / picturedesk.com
Konferenz in Wien

„Ukraine schon jetzt Teil des Westens“

Kriege verschieben Grenzziehungen. Militärisch, aber auch politisch. „De facto ist die Grenze des Westens jetzt die ukrainisch-russische Grenze“, sagte der Politologe Iwan Krastew. Gemeinsam mit anderen Expertinnen und Experten aus der ganzen Welt suchte er in Wien nach Antworten für die Ukraine nach dem Krieg. Tenor der Konferenz: Die Ukraine bestimmt die Zukunft der EU. Und es wird einen europäischen Marshall-Plan brauchen, um zu einer stabilen Lösung für ein Danach zu kommen.

Spätestens seit dem 24. Februar dieses Jahres ist die europäische Ordnung nicht mehr die, die sie in den Jahrzehnten davor gewesen sein mag. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat die Ukraine, zwangsläufig, verändert. Aber der Konflikt verändert auch die EU und verändert auch Haltungen in einzelnen EU-Staaten. Schon die Grußbotschaften der internationalen Ukraine-Konferenz am Freitag in Wien, die von der Erste Stiftung und dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) organisiert wurde, zeigten, wie schwer sich der Konflikt auf Haltungen ausgewirkt hat.

„Frieden muss besser bewaffnet sein gegen die Gesetze der Tyrannei“, richtete etwa die estnische Ministerpäsidentin Kaja Kallas via Videobotschaft aus. Und sie erinnerte daran, dass „ein schlechter Frieden alle eine Belastung für uns in der Zukunft" sein werde. Nun richtete sie sich bei dieser Konferenz an ein Publikum, bei der die Haltungen klar waren: Es ist eine große Pro-Ukraine-Allianz, die sich hier versammelt hat. Die aber diskutieren musste, welche Akzente und Inhalte gerade jetzt, in Zeiten des Krieges, gesetzt werden müssten, um der Ukraine eine Perspektive zu geben.“

Konferenz zur Zukunft der Ukraine
ORF.at
Ein langer Tag in Wien: Vier Pannels und über 20 Expertinnen und Experten diskutierten die Zukunft der Ukraine auf Einladung der Erste Stiftung

Experte Plokhy: „Lange Orientierung hin zum Westen“

Dass die Ukraine seit mehr als hundert Jahren nach Westen ausgerichtet sei und sich schon aus dem russischen Reich lösen wollte, daran erinnerte der bekannte Ukraine-Experte und Havard-Professor Serhii Plokhy.

„Die Ukraine hatte immer eine Kultur, die sich stark unterschied von der UdSSR. Es gab immer schon eine große Vielfalt der Identitäten auf dem Gebiet der Ukraine“, argumentierte Plokhy, der in diesem Moment auch den Grund sieht, warum sich die Euromaidan-Bewegung gebildet hat: „Nie konnte nur eine einzige Partei allein das ganze Land dominieren. Es musste immer aufeinander zugegangen werden, etwa um eine Regierung zu bilden.“ Der Euromaidan ist für Plokhy auch der entscheidende Trigger für das Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin: „Alles startete 2014, mit der Annexion der Krim. Der Trigger für den Krieg war der Euromaidan. Hier fängt der Konflikt an. Es geht um die europäische Orientierung der Ukraine.“

Langfassung: Interview mit Journalistin Olga Tokariuk

Wie könnte sich der Krieg zwischen Russland und der Ukraine beenden lassen, welche Forderungen stellt die ukrainische Bevölkerung? Die Journalistin und Aktivistin Olga Tokariuk antwortet.

Der Marshall-Plan als Modell

Das moderne ukrainische Modell aus dem 19. Jahrhundert markiert für ihn schon eine Orientierung hin zu Europa hin: „Und das bedeutete immer Emanzipation vom russischen Reich. Der Kommunismus hat eigentlich wenig an dieser Orientierung geändert. Seit 1995 ist die Ukraine in einem Niemandsland gestrandet. Man hat die Nuklearwaffen abgegeben, aber keine Perspektive bekommen.“ Jetzt müssten Grundsatzfragen gelöst werden, sonst drohe bald ein noch größerer Krieg, so Plokhy, der daran erinnerte, dass sich die Ukraine mit einer prowestlicheren Orientierung in ihrer Politik noch mehr von den Oligarchen ablösen müsse.

Diskussionspanel der Konferenz #TimeToDecide22
APA/eSeL/Lorenz Seidler
Ivan Vejvoda (IWM) und Boris Marte (Erste Stiftung), beide in Weiß in der Mitte, mit den Expertinnen und Experten der Wiener Konferenz

Für den Wiederaufbau der Ukraine sieht er historische Modelle, an denen man sich orientieren könne: „Der Marshall-Plan ist so ein Modell, nur muss jetzt Europa das Geld dafür in die Hand nehmen.“ Geld, das Europa hat, darauf verwies Osteuropaexperte Gerald Knaus im Gespräch mit ORF.at am Rand der Konferenz: „Eigentlich sind in den Kohäsionsfonds der EU viel größere Mittel als das, was ein Marshall-Plan für angeboten hat. Europa hat auch das Problem, dass es seine eigenen Maßnahmen nie publikumswirksam zu verkaufen weiß.“

Die italienische Politologin Nathalie Tocci vom italienischen Istituto Affari Internazionali sieht wie Plokhy die Wurzel dieses Konflikts als Hürde für die Bereinigung dieses Konflikts: „Dieser Krieg wurde von Ideologien getragen – und das macht eine Lösung schwer.“ Eine Deeskalation alleine werde nicht zu einem haltbaren Friedensabkommen führen. Deshalb müsse sich die Ukraine und müsse sich der Westen auf einen langen Konflikt einstellen, zugleich aber sehr bald konkrete Perspektiven anbieten. Dazu zählt ja auch der mögliche Kandidatenstatus für die Ukraine auf dem EU-Gipfel im Juni, für den diese Konferenz auch Argumentationen sammelte. Die Ukraine brauche jetzt sehr klare Perspektiven, die innerhalb von einem bis vier Jahren zum Tragen kämen.

Zukunft der Ukraine positiv

Auf einer internationalen Konferenz in Wien spricht der ukrainische Außenminister Dmytri Kuleba von einem ukrainischen Wunder, da der angestrebte „Blitzkrieg“ Russlands nicht funktioniert habe. Die Zukunft der Ukraine wird positiv gesehen, auch wenn enorme Kriegsschäden zu beklagen sind.

Zuerst in die NATO? Dann in die EU?

Bellincat-CEO Christo Grosew, dessen Organisation ja wesentlich an der investigativen Aufdeckung von russischen Operationen arbeitet, argumentierte für eine baldige NATO-Perspektive für die Ukraine. Nur wenn Investoren die Sicherheit hätten, dass ein Land eine militärische Stabilität hinter sich habe, würden nachhaltige Investitionen getätigt. Grosew erinnerte daran, dass auch jüngere EU-Mitglieder vor ihrem Mitgliedsstatus schon Teil der NATO gewesen seien und dass das ein Erfolgsmodell gewesen sei – eine Haltung, die im Moment in Europa ja nicht unisono geteilt wird, wenn man sich die Debatten rund um den „Emma“-Brief anschaut.

Florence Gaub, die Gründerin der Futurate Institute in Paris, wollte daran erinnern, dass man diesen Krieg nicht als zu schnell gelöst betrachten möge. Kriege seien ja immer der Ausdruck von Konflikten, so Gaub ähnlich wie ihre italienische Kollegin. Auch sie meinte, dass ein „schlechter Frieden“ den nächsten Konflikt in sich berge. „Die Ukraine und die Alliierten müssen bereit sein, sich einen längeren Konflikt vorzustellen“, so Gaub.

„Der Konflikt verändert gesamte europäische Architektur“

Der Konflikt, so waren sich viele Teilnehmer der Konferenz einig, habe schon jetzt die EU komplett verändert. Der Krieg sei wie ein „Weckruf“ gewesen, hörte man da. „Die EU war immer gewohnt, andere zu ändern, nun erlebt sie, dass andere sie ändern. Und es ist ein Krieg in einem sehr großen Land“, sagte IWM-Fellow Krastew: „Die Ukraine ist nicht Polen. Die Ukraine ist in ganz anderen Dimensionen verortet.“ Krastew erinnerte auch daran, dass die Ukraine auch deshalb eine Perspektive brauche, weil sie sonst ein Loch bei der jüngeren Bevölkerung habe. „Jetzt sind viele ukrainische Kinder im Westen. Wenn die wie selbstverständlich und akzeptiert im Westen aufwachsen, werden sie eines Tages dem Land fehlen“, so der bulgarische Politologe.

Konferenz zur Zukunft der Ukraine
ORF.at
Gerald Knaus argumentiert für das dringende Beibehalten der Personenfreizügigkeit für Ukrainer

Dem widersprach Migrationsexperte Knaus. Er erinnerte daran, dass 3,5 Millionen Ukrainer nach Polen geflohen seien. Aber 1,3 Millionen wieder retour in die Ukraine gegangen seien. „Das ist eine Frage der Perspektive. Mit der Verteidigung Kiews hat es eine Perspektive Richtung Rückkehr gegeben. Und auf die haben viele rasch reagiert.“

Knaus: „Bewegungsfreiheit unbedingt erhalten“

Knaus argumentierte, dass Europa jetzt vor allem seine berühmte „vierte Freiheit“, die Bewegungsfreiheit, gegenüber den Ukrainern in trockene Tücher bringen sollte – und das für eine längere Zeitperspektive: „Momentan ist die Bewegungsfreiheit zentral. Das darf nicht geändert werden. Wenn man die Bewegungsfreiheit lässt, gehen Leute wieder retour. Entscheidend ist, dass sich die Ukraine entwickelt. Nimmt man die Bewegungsfreiheit weg, holen die Menschen ihre Familien nach.“ Knaus verwies dabei auf die Erfahrungen, die Europa im Bereich der Gastarbeiter gemacht habe.

Für die ukrainische Journalistin Olga Tukariuk, die für das Center for European Policy Analysis (CEPA) forscht, hat sich ihr eigenes Land, das sie für die Konferenz erstmals verlassen konnte, komplett verändert. Im Schatten des Konflikts hätten sich in der ukrainischen Gesellschaft, wo es immer ein starkes Misstrauen gegen den Staat gegeben habe, neue Vertrauensverhältnisse gebildet: „Es gibt ein neues Vertrauen in die Kraft der Gesellschaft. Das war früher ein Problem. Und das wird sich in ein neues Vertrauen in die Institutionen umsetzen.“

Wolodymyr Selenskyj führe sein Land als Präsident nicht als starker Führer, sondern als „Mitglied der Gesellschaft. Es ist ein Bottom-up-Leadership. Wir müssen hoffen, dass dies auch das Vertrauen in die ukrainische Institutionen stärkt.“ Die Chance der jetzigen Situation, so Tukariuk, sei, dass es nun erstmals im Land das Gefühl gebe, „dass die Regierung für die gemeinsame Sache steht“.