Pro-Russische Truppen in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
Nach Fall Mariupols

Russlands hektische Truppenverschiebung

Mit der Aufgabe fast aller ukrainischen Kämpfer im Asow-Stahl-Werk Mariupol ist Russland nach wochenlanger Belagerung nicht nur ein symbolischer Sieg gelungen: Die russischen Truppen und prorussischen Milizen waren dort auch gebunden. Nun können sie – zumindest theoretisch – in andere umkämpfte Gebiete im Donbas verlagert werden. Allerdings: Nach Ansicht britischer Geheimdienste würde eine schnelle Verschiebung der Truppen nicht allzu viel bringen – im Gegenteil.

Nach den heftigen Gefechten in Mariupol riskiere Moskau eine weitere Zermürbung seiner Streitkräfte, so der britische Geheimdienst. Der Wiederaufbau und die Neuausstattung der Streitkräfte könnten sich, wenn man ihn sorgfältig durchführe, länger hinziehen, so das Ministerium.

Da russische Kommandeure jedoch stark unter Druck stünden, sichtbare Erfolge zu erreichen, sei es wahrscheinlich, dass Moskau seine Truppen ohne angemessene Vorbereitung in seine Offensive in der Donbas-Region schicke.

Bataillone neu zusammengewürfelt

Dass Russland seine Truppen nach einer Neuaufstellung zu schnell wieder an eine andere Front schickt, hatte sich schon nach dem Rückzug aus dem Raum Kiew gezeigt. Damals verlagerte man die Truppen schnell in den Donbas. Zuletzt bestätigte das ein ranghoher Vertreter des US-Verteidigungsministeriums: Russland habe einige Einheiten an die Front geschickt, die nach den Verlusten beim gescheiterten Angriff auf Kiew nicht mehr zu 100 Prozent einsatzfähig waren. Einige der Bataillone wurden aufgelöst und mit anderen zusammengelegt. Dabei gilt das schlechte Zusammenspiel unterschiedlicher Truppeneinheiten als eines der Hauptprobleme der russischen Armee.

Auch eine Strategieänderung sei zu bemerken, berichtete der Militärjournalist Jack Detsch unter Berufung auf das Pentagon: Russland würde mit kleineren Einheiten agieren und sich weniger ambitionierte Ziele setzen.

Abzug aus Charkiw, Verlegung in Donbas

Auch der US-Thinktank Institute for the Study of War berichtete von der Neuzusammensetzung russischer Kampfverbände, was auf Probleme bei der Rekrutierung und Nachschub von Kämpfern schließen lasse. Zudem seien ein paar hundert Soldaten aus der Gegend von Charkiw abgezogen und in die Nähe von Donezk und in andere umkämpfte Gebiete im Donbas verlegt worden. Diese sollen – laut abgefangener Kommunikation – von der Intensität der Kämpfe an ihrem neuen Einsatzort überrascht gewesen sein.

Reservisten als Schwachstelle

Bei der Neuordnung der Einheiten aus Mariupol stellt sich noch ein anderes Problem: Russland setzte dort, wie ebenfalls der britische Geheimdienst diese Woche berichtete, vor allem auf Soldaten aus prorussischen Milizen von Donezk und auf tschetschenische Kämpfer.

Mit beiden Gruppen wurden im Verlaufe des Krieges schon Kommunikationsprobleme gemeldet. Zudem hieß es, die Einheiten des tschetschenischen Diktators Ramsan Kadyrow seien nicht unbedingt für jene Art der Kriegsführung ausgerüstet und geschult, wie sie derzeit an der Front gebraucht wird.

Scharfe Kritik von ehemaligen Kriegsherrn

Als Schwachstelle in der Armee gelten vor allem jene Einheiten, die sich aus Reservisten aus den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zusammensetzen. Zu dieser Einschätzung kommt Igor Girkin, Kampfname Strelkow, der ehemalige militärischer Anführer der „Volksrepublik“ Donezk. Der in Moskau geborene Girkin brach mit Russland, weil Präsident Wladimir Putin den von ihm schon ab 2014 geforderten Einmarsch russischer Truppen damals verweigerte.

Der ehemalige Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB wird im Zusammenhang mit dem Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17 im Juli 2014 international gesucht. Aus Russland, wo er seit Jahren wieder wohnt, kritisiert er regelmäßig und in harschen Tönen die russische Militärstrategie in dem Krieg.

Derzeit sieht er keine schnelle Möglichkeit, wie die Ukraine geschlagen werden könnte – im Gegenteil: Er befürchtet eine Gegenoffensive, die sich eben vor allem gegen Stellungen richtet, die von Reservisten gehalten werden, allen voran die Stadt Cherson.

Proteste gegen Rekrutierungen in „Volksrepubliken“

Doch damit nicht genug. In den von Russland annektierten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk regt sich laut ukrainischen Quellen immer mehr Widerstand gegen die Zwangsrekrutierung von Männern. In den prorussischen Gebieten werden Männer bis 60 Jahre zum Kampf verpflichtet. Schon in den vergangenen Wochen hatte es Meldungen gegeben, wonach sich Männer verstecken würden, um nicht eingezogen zu werden: Dem Vernehmen nach werden die Männer teilweise mit museumsreifen Waffen an die Front geschickt. Nun gibt es Berichte, wonach es in Donezk und Luhansk bereits Proteste gibt – auch weil keine Entschädigungen an die Familien von Verletzten und Gefallenen gezahlt werden.