Ukraine

Zerstörung der Kultur „Teil von Völkermord“

Im Schatten des Krieges, abseits der Weltöffentlichkeit, findet in der Ukraine ein weiteres Kriegsverbrechen statt: die Zerstörung von Kulturgütern – von großen Museen bis zu kleinen Manuskripten. Als „Teil von Völkermord“ bezeichnet die im Exil lebende ukrainische Architekturhistorikerin und Aktivistin Jewgenija Gubkina gegenüber ORF.at die kulturellen Verheerungen. Denn wer das kulturelle Erbe eines Volkes auslösche, lösche damit gewissermaßen auch das Volk selbst aus.

Angesichts der Tausenden Todesopfer mag es auf den ersten Blick vermessen erscheinen, zerbombte Theater und geplünderte Museen zu beklagen. Auf die Frage, ob es überhaupt möglich sei, über Kunst und Kultur auch nur zu sprechen, während gleichzeitig Menschen getötet werden, bittet Gubkina, das eine mit dem anderen nicht zu vergleichen. Dass das Leben von Menschen wichtiger ist, stehe außer Frage. Gleichwohl sei dieses eben untrennbar mit dem kulturellen Erbe ihres Landes verwoben.

Ukrainisches Kulturgut, das sei so viel mehr als das, was sich in einem Museum befinde, so viel mehr als hübsche, teure Objekte. „Kulturelles Erbe kann so etwas sein wie ein Beweis, wie schön die Ukraine war, wie interessant unsere Geschichte war. Ein Beweis, dass wir ein unabhängiges Land waren.“ Gerade vor dem Hintergrund des russischen Imperialismus seien kulturelle Objekte „politisch und historisch wichtig“. Angriffe auf „ikonische Objekte“ stünden für sie daher auf der gleichen Ebene wie Völkermord, weil sie „Teil dieses Phänomens“ seien, „das Phänomen von Völkermord.“

Die Architekturhistorikerin Ievgeniia Gubkina​
Privat
Für Gubkina sind ukrainische Kulturgüter „ein Beweis, dass wir ein unabhängiges Land sind“

Exil in Paris

Die Angriffe russischer Truppen waren es auch, die Gubkina in die Flucht trieben, zuerst nach Lettland und bald schon vielleicht nach London. Derzeit lebt die Architekturhistorikerin mit ihrer Tochter aber noch in Paris. Der Vater, ein letztes Mal aus dem Zug verabschiedet, musste zurückbleiben und kämpfen. „Schmerzhaft“ sei ihr Leben mit dem 24. Februar geworden, in so vielerlei Hinsicht. Auch das Geld sei knapp. In Paris habe sie ein mit drei Monaten befristetes Forschungsstipendium im Bereich der UNESCO ergattern können.

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Modernismus und dem sowjetischen Erbe in der Ukraine. Auch war Gubkina als Aktivistin umtriebig, gründete mehrere NGOs, schrieb zahlreiche Bücher. Eines davon, ein Architekturführer über ihre Heimatstadt Charkiw, erzählt eine besondere Geschichte: „Im Dezember gab ich meinem Verleger das Manuskript. Leider ist ein Teil der Route mittlerweile zerstört. Deshalb haben wir beschlossen, dass ich den Text neu schreiben sollte, weil wir den Kontext des Krieges und der Zerstörung des Kulturerbes einbringen wollen.“

„Zerstörte Wohnung im Zentrum von Charkiw, Ukraine“
Konstantin Akinsha​
„Jede Beschädigung von nationalen Kulturgütern ist eine Beschädigung des kulturellen Erbes der gesamten Menschheit“, heißt es in der Haager Konvention

Konvention zum Schutz von Kulturgut im Krieg

Dabei ist Kulturgüterzerstörung im Krieg etwas, das es eigentlich so gar nicht geben dürfte. Schließlich unterliegen auch Kriege eigenen Regeln und Gesetzen, die unter anderem auch den Schutz von Kulturgütern vorsehen. Festgeschrieben wurden diese 1954 in der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. Darin heißt es etwa: Jede Beschädigung von nationalen Kulturgütern ist eine Beschädigung des kulturellen Erbes der gesamten Menschheit.

Kulturgüterschutzlogo
Das Blue-Shield-Siegel der Haager Konvention dient zur Kennzeichnung von geschütztem Kulturgut

Daher müssten diese während eines Krieges oder bewaffneten Konfliktes vor Zerstörung oder Beschädigung sowie Diebstahl, Plünderung und anderen Formen einer widerrechtlichen Inbesitznahme geschützt werden. Das gelte für Museen, Bibliotheken, Archive und Denkmäler ebenso wie für Gemälde, Skulpturen, Bücher und Manuskripte. Wer dagegen verstößt, begeht Kriegsverbrechen.

„Leere Worte“

Daran erinnerte zu Beginn des Krieges auch die UNESCO-Generaldirektorin Audrey Azoulay. In einem Schreiben an den russischen Außenminister Sergej Lawrow schrieb sie: „Russland ist Unterzeichner dieses Abkommens. Jede Verletzung dieser Normen wird dazu führen, dass Täter international zur Verantwortung gezogen werden.“ Laut „Politico“ habe Azoulay die Koordinaten der ukrainischen Welterbestätten beigefügt und auf das Blue-Shield-Siegel verwiesen.

Gubkina sagt dazu: „Die internationalen Institutionen machen viele hochtrabende Worte über den Schutz des Erbes und die Verhinderung seiner Zerstörung. Aber das sind leere Worte, die weder Raketenangriffe noch Beschuss abwehren können.“ Beispiele aus der Vergangenheit wie Syrien hätten eindrucksvoll bewiesen, dass diese Konvention nicht funktioniere, so Gubkina, die diese Verbrechen mit einem Vergewaltigungsfall vergleicht: „Man sollte diese Fälle aufarbeiten und dokumentieren. Und die Täter bestrafen.“ Wenn das nicht geschehe, „sind wir keine zivilisierte Gesellschaft mehr“.

Zu einem Prozess am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag kam es etwa im Jahr 2016. Ein terroristischer Islamist wurde aufgrund der Zerstörung von Kulturerbe zu neun Jahren Haft verurteilt.

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Altstadt in Lwiw
Reuters/Pavlo Palamarchuk
Das historische Zentrum von Lwiw zählt mit sechs anderen zu den sieben ukrainischen Weltkultur- und Naturerbestätten
Höhlenkloster in Kiew
Reuters/Gleb Garanich
Das Höhlenkloster südlich des Stadtzentrums von Kiew mit der Sophienkathedrale in der Mitte zählt ebenfalls dazu
Sophienkathedrale in Kiew
AP/Vadim Ghirda
Die Angst um die Zerstörung vor allem der Sophienkathedrale in Kiew ist groß – sie gehört zu den wichtigsten Bauwerken christlicher Kultur in Osteuropa

Zerstörte Kulturobjekte „nicht mehr zählbar“

Sieben Welterbestätten von „außergewöhnlichem universellen Wert“ gibt es in der Ukraine. Und weit über 3.000 Denkmäler. Laut einem Onlineverzeichnis des ukrainischen Kulturministeriums sind bereits über 360 Kulturstätten im Ukraine-Krieg beschädigt worden.

Gubkina verweist jedoch auf eine hohe Dunkelziffer zerstörter Kulturgüter: „Vor ein, zwei Monaten konnte ich noch Zahlen nennen. Jetzt nicht mehr. Aber nicht, weil ich nicht mehr dort bin. Sondern, weil es einfach zu viele sind.“

Allein ein Blick auf „ihre“ Region, Charkiw, zeige, dass nur etwa 10 Prozent der zerstörten Objekte auf der offiziellen Seite des ukrainischen Kulturministeriums gelistet seien. Ohnehin sei es „eine Utopie, alle Objekte zählen zu können. Es sind zu viele. Es sind Tausende.“

Gezielte Angriffe?

Auch ist Gubkina überzeugt, dass es sich um gezielte Angriffe und nicht, wie in den ersten Tagen des Krieges angenommen, um Kollateralschäden handle. „Sie (die russischen Truppen, Anm.) wollen unsere Infrastruktur zerstören, inklusive der kulturellen.“ Auch die Plünderungen von Museen sehe sie als „angeordnet“ an.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt Kunsthistoriker Konstantin Akinscha. Er sammelt seit Kriegsbeginn Informationen über verlorenes Kulturerbe. In zahlreichen Fällen ortet er Anzeichen von gezielter Zerstörung – wie in dem Fall eines Museums in der Nähe von Charkiw. „Hier gab es keinerlei Kampfhandlungen und auch keinen Militärstützpunkt. Die russische Rakete hat genau dorthin gezielt, denn nichts anderes in der Umgebung wurde getroffen. Es wurde komplett zerstört.“

Zerstörtes Theater in Mariupol
Zerstörtes Theater in Mariupol
Das Akademische Dramatheater in Mariupol vor und nach dem russischen Luftangriff vom 16. März

Rettungsaktionen unsystematisch und wirkungslos

In Einzelfällen würde es Gubkina zufolge zwar gelingen, Kulturerbe zu retten, das geschehe aber leider recht unsystematisch und in geringem Ausmaß. Denn: „In dieser Phase des Krieges ist es viel wichtiger, Menschen zu retten.“ Zwar würden einige Museen versuchen, ihre Objekte in Bunker zu bringen, aber ist die Region erst einmal von russischen Truppen eingenommen, helfe auch das nichts mehr.

Zudem seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Museen auf den Krieg nicht vorbereitet gewesen. „Niemand ist das gewesen“, fügt sie hinzu. Auch in Odessa, im Museum Westlicher und Östlicher Kunst, fehlen Mitarbeiter: „Gott sei Dank war in Odessa kein Museum direkt von einem Raketeneinschlag betroffen; aber natürlich haben sich einige Mitarbeiter an die Front gemeldet oder sind geflohen“, sagte Direktor Igor Poronyk.

Arbeiter bringen in Lviv ein Kunstwerk zur sicheren Lagerung während des Krieges in der Ukraine
AP/Bernat Armangue
Eigentlich sollten Kunstwerke wie dieses in Lwiw durch das Haager Abkommen geschützt sein – weil die Realität aber anders aussieht, wird es von Museumsmitarbeitern in Sicherheit gebracht

Tränen für Plattenbauten

Keine Mitarbeiter, keine Vorkehrungen, kein Schutz – all das habe dazu geführt, dass auch die Dokumente aus Architekturarchiven nicht in Sicherheit gebracht werden konnten. Gerade für den Wiederaufbau der Städte hätten diese aber einen unermesslichen Wert.

Denn auch Gebäude seien Teil des kulturellen Erbes: „Für viele Jahre hatten wir Diskussionen, was wir mit diesen Plattenbauten machen sollen. Hässlich, grau, mit viel Beton, brutalistisch, ungemütlich. Doch in dem Moment, wo man sieht, wie man die Dinge, die einem einmal gehörten, verloren hat, in diesem Moment fängt man an, die Dinge zu schätzen“, sagt Gubkina.

Das hätte dazu geführt, dass die Bewohner und Bewohnerinnen selbst um Plattenbauten trauerten: „Die Leute haben wirklich geweint. Die Menschen wollten die Gebäude umarmen. Und in diesem Moment sind die Menschen dem Kulturerbe sehr, sehr nahegekommen.“ Die Beziehung zur eigenen Geschichte, die Beziehung zum eigenen Ort, zur eigenen Stadt sei sichtbar geworden, als die Gebäude unsichtbar wurden. Dieser Verlust sei schrecklich.

Wiederaufbau „Zeichen, dass das Leben weitergeht“

Kunsthistoriker Akinscha meinte dazu: „Norman Foster, der britische Stararchitekt, hat schon gesagt, dass er Charkiw wiederaufbauen möchte. Aber wir haben Angst vor der Versuchung, dass man neue Städte baut anstelle der alten. Wir hoffen, dass die Architektur, die beschädigt wurde, wieder neu entstehen kann und nicht eliminiert wird.“

Im Fall von Charkiw zeigt sich auch Gubkina überzeugt, dass dessen Bewohner und Bewohnerinnen die Stadt gleich wiederaufbauen wollen, wie sie diese in Erinnerung hatten. „Es könnte ein Statement sein, das den Menschen helfen kann zu überleben und auch nach dem Krieg noch am Leben zu sein“, sagt Gubkina. Sie spricht von einer Art Strategie zur Traumabewältigung: „Auch wenn es dann nicht authentisch sein wird, kann es immer noch ein Zeichen für die Menschen sein, dass das Leben weitergeht. Dass unser Erbe, unsere Kultur wichtig ist. Dass wir dieses Charkiw noch haben.“