Christian Lindner und Paolo Gentiloni
AP/Olivier Matthys
Defizitregeln

Berlin tadelt EU-Länder für neue Schulden

Nach der Ankündigung der EU, die strengen Schuldenregeln ein weiteres Jahr auszusetzen, hat sich vor allem Deutschland am Montag skeptisch gezeigt. Berlin selbst werde von der Möglichkeit nicht Gebrauch machen, hieß es – und Finanzminister Christian Lindner forderte andere Länder zur Haushaltsdisziplin auf. Er warnte vor noch höherer Inflation. Österreich zeigte unterdessen Verständnis für die Ausnahmeregelung.

„Man kann abhängig werden von Staatsverschuldung, und wir müssen die Sucht nach immer mehr Verschuldung beenden, so schnell wie möglich“, so der FDP-Politiker im Vorfeld eines Treffens der EU-Wirtschafts- und -Finanzminister in Brüssel. „Wir raten dazu, möglichst keinen Gebrauch davon zu machen, im nächsten Jahr wieder viele Schulden aufnehmen zu können.“

Die Bekämpfung der Inflation müsse jetzt Priorität haben. Sie sei eine Gefahr für die Wirtschaft. „Sie kann auch ein Verarmungsprogramm für viele Menschen sein.“ Nötig seien geringere Defizite, weniger Schulden und Subventionen. „Das ist unser Beitrag zur Bekämpfung der Inflation.“ In Deutschland ist die Teuerungsrate im April auf den höchsten Stand seit mehr als 40 Jahren gestiegen.

Man nehme den Vorschlag der EU-Kommission „zur Kenntnis“, so Lindner, wenngleich er sagte, dass die Daten auch „andere Schlussfolgerungen erlaubt hätten“. Es sei die Aufgabe als Mitglied, „schnellstmöglich alles zu tun“, um zu Stabilität zurückzukehren, so Lindner. Deutschland werde zur Schuldenbremse, die im Grundgesetz vorgesehen sei, zurückkehren.

Schuldenregeln ein weiteres Jahr ausgesetzt

Am Vormittag kündigte die EU-Kommission an, die strengen Schuldenvorgaben in der EU ein weiteres Jahr auszusetzen. Grund seien hohe Unsicherheit wegen des Ukraine-Kriegs, hohe Energiepreise und Engpässe bei den Lieferketten, teilte die Brüsseler Behörde mit. Mit dem Krieg gebe es nun den „zweiten von außen kommenden Schock binnen zwei Jahren“, so Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.

Christian Lindner und andere EU-Vertreter diskutieren
AP/Olivier Matthys
Lindner (rechts) konnte dem Vorschlag von Gentiloni (links) eher wenig abgewinnen

Er forderte zugleich, dass die Länder ihre Ausgaben kontrollieren sollten. „Die Fiskalpolitik sollte von der Universalunterstützung während der Pandemie zu gezielteren Maßnahmen übergehen“, sagte er. „Wir empfehlen nicht unbegrenzte Ausgaben“, so Gentiloni weiter und warnte vor einer Rezession in einigen Mitgliedsländern, ohne diese namentlich zu nennen. Die Schulden- und Defizitregeln wurden wegen der CoV-Krise ausgesetzt und sollten eigentlich ab 2023 wieder gelten.

Einige EU-Länder sehen Regeln als „veraltet“ an

Die EU-Kommission will nun nach dem Sommer konkrete Vorschläge für eine Reform des Pakts vorlegen, die dann im Laufe des nächsten Jahres in Kraft treten könnte. Mehrere Länder – darunter Frankreich – halten den Pakt für „veraltet“. EU-Vizekommissionspräsident Valdis Dombrovskis gestand ein, dass die Arbeit an einer Reform ins Stocken gekommen sei. „Der Krieg in der Ukraine hat uns gezwungen, uns auf Sofortmaßnahmen zu konzentrieren“, so Dombrovskis.

EU setzt Schuldenregeln wieder aus

Die Europäische Kommission will die Haushaltsregeln ein weiteres Jahr aussetzen. In dieser krisenreichen Zeit muss mit hohen neuen Schulden gerechnet werden.

Im Hinblick auf die möglichst baldige Unabhängigkeit von russischem Öl und Gas werden wohl enorme Investitionen nötig sein, erst vergangene Woche stellte die EU-Kommission einen 210-Milliarden-Euro-Plan zum Ausbau der Energieversorgung vor. Auch das dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, den EU-Mitgliedsländern nicht allzu harte Grenzen aufzuzeigen, schreibt die Nachrichtenagentur AFP.

Brunner zeigt Verständnis für Maßnahme

Österreich zählt zum Lager jener Staaten, die eine Aufweichung der EU-Schuldenregeln eher kritisch sehen. Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) zeigte sich jedoch in einer ersten Reaktion offen für den EU-Kommissionsvorschlag. „Wir haben natürlich Verständnis in diesen außergewöhnlichen Zeiten, dass man diese Haushaltsregeln überdenken muss“, so Brunner vor dem Treffen der Euro-Gruppe. Man werde sich jedoch dafür einsetzen, „nach der Krise“ zu einer nachhaltigen Fiskalpolitik zurückzukehren, so Brunner.

„Die große Reform kann man angehen“, sagte der Finanzminister weiter. Es gebe bereits Diskussionen über Vereinfachungen. „Aber prinzipiell muss man darauf schauen, dass die Spielräume wieder größer werden“, sagte der Ressortchef. Und er forderte: Die Mitgliedsländer müssten ihre Budgets „wieder in Ordnung bringen“.

Auch die Niederlande, die ebenfalls als sparsam gelten, signalisierten am Montag Zustimmung. Finanzministerin Sigrid Kaag zeigte sich offen für den Kommissionsvorschlag. Eine „transparente und klare Schuldenreduzierung“ sei aber weiterhin wichtig, sagte sie.

Pakt sieht strenge Handhabe bei hohen Schulden vor

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sieht an sich vor, dass EU-Länder nicht mehr als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung an Schulden aufnehmen. Budgetdefizite sollen bei drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gedeckelt werden. Danach müssen Euro-Länder mit einer Schuldenquote von über 60 Prozent jedes Jahr ein Zwanzigstel der Differenz zwischen 60 Prozent und der tatsächlichen Quote abbauen.

Viele Länder überschreiten diese Grenzwerte, vor allem, weil sie während der Pandemie hohe Schulden aufnehmen mussten, um die Wirtschaft zu stützen. So liegt etwa in Italien die Schuldenquote bei 160 Prozent, in Griechenland sogar bei 200 Prozent. Auch Österreich wird heuer laut der Ende April von der Regierung beschlossenen Budgetanpassung die beiden wichtigsten Maastricht-Kriterien verfehlen, mit einer Schuldenquote von 80 Prozent und einem Defizit von 3,1 Prozent des BIP.

EU senkt Wachstumsprognose

Zuletzt hatte die EU-Kommission die Entwicklung der staatlichen Budgets positiv bewertet. Die durchschnittliche Schuldenquote werde dieses Jahr auf 87 Prozent sinken im Vergleich zu 90 Prozent im vergangenen Jahr, hieß es in der Frühlingsprognose der Behörde. Die durchschnittlichen Defizite sollen voraussichtlich von 4,7 Prozent auf 3,6 Prozent der Wirtschaftsleistung sinken.

Ihre Wachstumsprognose musste die EU-Kommission allerdings wegen des Kriegs in der Ukraine drastisch anpassen, von vier auf 2,7 Prozent für dieses Jahr. Für Österreich sieht die Kommission 2022 ein Wachstum von 3,9 Prozent, im Jahr 2023 bei 1,9 Prozent. Vor allem die heimische Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen würde sich auch auf die Inflation auswirken, heißt es in dem Länderbericht. Gefordert wird darüber hinaus unter anderem eine Öffnung des Arbeitsmarkts für benachteiligte Gruppen. Auch Frauen sollen auf dem heimischen Arbeitsmarkt eine größere Rolle einnehmen, schreibt die Kommission.