Die bisher geheimen Fotos, Reden und Behördenweisungen aus dem Inneren der Umerziehungslager, in denen Uiguren und Mitglieder anderer Minderheiten untergebracht wurden, zeichnen ein verstörendes Bild. Das Datenleck umfasse eine Vielzahl an „unterschiedlichen Verbrechen – von der Internierung in Umerziehungslagern bis zur Zwangsarbeit, bis zur Zerstörung von Moscheen, bis zur Einschränkung der Religion“, wurde Zenz im „Spiegel“ zitiert.
Auf den von den Medien veröffentlichten Bildern sind Sicherheitskräfte mit Sturmgewehren und Holzknüppeln zu sehen. Auch Aufnahmen misshandelter Häftlinge wurden publik. Ein Foto zeigt einen Häftling in einem „Tigersessel“ – eine Foltervorrichtung, bei der die Beine überdehnt werden. Einem weiteren Häftling mit gefesselten Händen und Beinen war auf einem Bild eine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen worden. Weitere Fotos würden fast 2.900 Inhaftierte zeigen: Die Jüngste war damals 15 Jahre alt, die Älteste 73 Jahre.
„Der Ort, an dem diese Männer und Frauen fotografiert wurden, ist kein offizielles Hochsicherheitsgefängnis“, schrieb der „Spiegel“. „Die Bilder stammen aus einem Umerziehungslager in Tekes in der nordwestchinesischen Region Xinjiang, in der vor allem Uiguren weggesperrt werden.“
Früherer Parteichef: „Erst töten, dann melden“
Laut dem Bayerischen Rundfunk (BR) und dem deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ findet sich in dem Datensatz – den „Xinjang Police Files“ – auch eine bisher unbekannte Rede des ehemaligen KP-Chefs der Region Xinjiang aus dem Jahr 2018, in der es heißt, jeder Gefangene, der auch nur versuche, ein paar Schritte weit zu entkommen, sei zu erschießen. Der frühere Parteichef Chen Quanguo wies Sicherheitskräfte bei der Flucht von Häftligen demzufolge an: „Erst töten, dann melden.“
Außerdem werden drakonische Strafen dokumentiert. Der BR nannte mehrere Beispiele: „Ein Mann soll gemeinsam mit seiner Mutter eine Stunde lang eine Audiodatei gehört haben, in der es unter anderem um ‚religiöse Steuern‘ ging“ – das Strafausmaß? „20 Jahre wegen Vorbereitung einer terroristischen Handlung.“ Ein Mann, der 15 Tage in einem Fitnesscenter trainiert hatte, wurde zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Behörden werteten den Besuch als „Vorbereitung einer terroristischen Handlung“.

14 Medien an Enthüllung beteiligt
Jener Datensatz, über den Medien wie „Spiegel“, BR, BBC, „El Pais“ und „Le Monde“ am Dienstag berichteten, war zunächst Zenz zugespielt worden. Der Deutsche ist ein bekannter China-Forscher, der an der Washingtoner „Victims of Communism Memorial Foundation“ arbeitet und schon früh auf die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang hinwies. 2021 wurde er von Peking mit Sanktionen belegt.
Er teilte die Daten, die er laut „Spiegel“ offenbar von einem Hacker erhalten hatte, mit insgesamt 14 westlichen Medien. „Nach Angaben des Forschers stellte die Quelle keinerlei Bedingungen, auch habe es keine Bezahlung gegeben“, hieß es im „Spiegel“ auch.
Zehn Gigabyte an Regierungsdaten
Das internationale Medienkonsortium spricht von insgesamt zehn Gigabyte an als „vertraulich“ oder „intern“ klassifizierten chinesischen Regierungsdaten. Insgesamt soll der Datensatz laut Informationen des BR von 300.000 durch die Behörden registrierte Chinesen, das Gros davon Uiguren, enthalten. Die Uiguren stellen mit rund zwölf Millionen Menschen etwa die Hälfte der Einwohner Xinjiangs.
Um die Informationen zu prüfen, sprach ein Team der BBC und des „Spiegels“ mit Angehörigen von Lagerinsassen, deren Namen und Fotos sich in den Daten finden, in den Niederlanden und der Türkei. Zudem wurden GPS-Daten aus einem Teil der Fotos ausgelesen sowie Gebäudeaufnahmen mit Satellitenbildern abgeglichen.

Peking ortet „antichinesische Kräfte“
China hatte bisher wiederholt behauptet, dass es sich bei den Lagern um „berufliche Fortbildungseinrichtungen“ handle. Die Führung in Peking hat religiöse und kulturelle Praktiken sowie die Sprache der Uiguren aber bereits seit Jahren im Visier. Eine ausführliche Anfrage zu den neuen Enthüllungen ließ China den Medien zufolge bisher unbeantwortet.
Chinas Regierung sieht aber „antichinesische Kräfte“ hinter der Veröffentlichung. „Gerüchte und Lügen zu verbreiten kann die Welt nicht täuschen und die Tatsache nicht verdecken, dass Xinjiang eine friedliche, wohlhabende Gesellschaft und eine blühende Wirtschaft hat, und die Menschen in Frieden und Glück leben und arbeiten“, sagte Außenamtssprecher Wang Wenbin vor der Presse in Peking. Die chinesische Botschaft in den USA erklärte, die Maßnahmen in Xinjiang richteten sich gegen terroristische Bestrebungen, es gehe nicht um „Menschenrechte oder eine Religion“.
USA und Kanada werfen China Genozid vor
2017 war in China die Verordnung zur Entradikalisierung in Kraft getreten. Zurschaustellungen religiöser oder kultureller Zugehörigkeiten werden seitdem als extremistisch eingestuft. Die Regierung in Peking wird beschuldigt, seither mehr als eine Million Uiguren und andere muslimische Minderheiten in der Region im äußersten Westen des Landes in „Umerziehungslagern“ interniert zu haben.
Peking werden unter anderem Zwangssterilisierungen und Zwangsarbeit vorgeworfen. Außerdem sollen die Behörden kulturelle Stätten dem Erdboden gleichmachen. Die gesamte Region wird streng überwacht. Die USA, Kanada und die Niederlande sprechen von einem Genozid.
Bachelet-Besuch in Xinjiang im Visier
Die Veröffentlichung fällt zusammen mit dem kontroversen, laufenden China-Besuch der UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, die auch nach Xinjiang reisen will. Bachelet wird voraussichtlich am Dienstag und Mittwoch die Städte Urumqi und Kashgar in Xinjiang besuchen. Die USA hatten Zweifel daran geäußert, dass Bachelet ein „unmanipuliertes“ Bild der Lage erhalten würde. „Statt Menschenrechtsverbrechen aufzuklären, geht sie das immense Risiko ein, durch ihren Besuch zum Vehikel der chinesischen Propaganda zu werden“, sagte die aus Österreich stammende Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland (TID), Tenzyn Zöchbauer.
Bei einem Treffen mit Bachelet am Vortag in Guangzhou in Südchina lobte hingegen Außenminister Wang Yi die Bemühungen seines Landes zum Schutz der Menschenrechte. China habe den Schutz der Rechte ethnischer Minderheiten „zu einem wichtigen Teil seiner Arbeit gemacht“, zitierte ihn das Ministerium.
Scharfe Kritik aus Deutschland und Österreich
Die Veröffentlichung löste auch im Ausland scharfe Kritik aus. Die neuen Datenlecks „entlarven die chinesische Propaganda und offenbaren ein Bild des Schreckens“, sagte die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des deutschen Bundestages, Renata Alt (FDP). „China muss für diese Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden“, forderte Alt.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verlangte eine transparente Aufklärung der Vorwürfe im Zusammenhang mit den Enthüllungen. Bei einer einstündigen Videokonferenz mit ihrem chinesischen Amtskollegen habe die Ministerin am Dienstag „auch die schockierenden Berichte und neuen Dokumentationen über schwerste Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang“ angesprochen, teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin mit.
In Österreich zeigte sich die außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, entsetzt: Das Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen, das sich in den veröffentlichten Dokumenten zeigt, sei „erschreckend“. Sie verlangte in einer Aussendung „entschiedene diplomatische Reaktionen sowohl im Rahmen der Vereinten Nationen als auch auf europäischer und nationalstaatlicher Ebene. Angesichts der Deutlichkeit der Menschenrechtsverletzungen ist auf EU-Ebene eine Verschärfung der Sanktionen zu verhandeln.“