Mann vor zerstörten Gebäuden in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
„Stadt der Geister“

Mariupol nach der russischen Eroberung

„Mariupol ist jetzt eine Stadt der Geister“, sagt Petro Andruschtschenko, ein Berater des Bürgermeisters der zerstörten ukrainischen Hafenstadt, gegenüber CNN. Die Stadt sei ins Mittelalter zurückgeworfen. Und die Bewohnerinnen und Bewohner, die bisher nicht flüchten konnten, seien nun praktisch eingesperrt und könnten sich nicht frei bewegen. Bürgermeister Wadym Boitschenko spricht vom größten Genozid in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Stadtverwaltung geht laut Andruschtschenko davon aus, dass in den drei Monaten des Krieges mindestens 22.000 Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt getötet wurden. Diese Zahl basiert laut Andruschtschenko auf den zahlreichen Kontakten, die er und andere Beamte des Rathauses, die sich nicht mehr in der Stadt befinden, weiterhin mit den eingeschlossenen Beamten haben. Er glaubt jedoch, dass die tatsächliche Zahl viel höher sein könnte. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.

Nun werden immer mehr Schreckensgeschichten aus der drei Monate lang von Russland belagerten, abgesperrten und durch wochenlanges Dauerbombardement schwer verwüsteten Stadt bekannt. Laut ukrainischen Angaben fanden Arbeiter beim Beseitigen von Schutt eines zerstörten Wohngebäudes in dessen Keller 200 Leichen. Die Leichen seien bereits im Zustand der Verwesung, und Leichengeruch hänge über dem gesamten Viertel, so Andruschtschenko. Die Stadt „riecht nach Feuer, es riecht nach Rauch und nach Tod. Das ist die Realität von Mariupol.“ Er sagte allerdings nicht, wann die Leichen entdeckt wurden.

Berater: Leichenfreigabe nur gegen Falschaussage

Laut Andruschtschenko wird die Umbettung der Toten erschwert, da die russischen Behörden darauf bestehen, dass die Leichen in ein Leichenschauhaus gebracht werden. Eine Person, die die Freigabe einer Leiche erbittet, müsse sich bereit erklären, ein Video aufzunehmen, in dem der Antragsteller sagt, der Verstorbene sei vom ukrainischen Militär getötet worden. Die überlebenden Bewohner könnten sich nicht frei bewegen, da für jede Bewegung innerhalb der Stadt spezielle Ausweise erforderlich seien und ein spezielles System sie daran hindere, ganz zu fliehen.

In Mariupol „riecht es überall nach Tod“

Petro Andruschtschenko, der Berater des Mariupoler Bürgermeisters, gibt in einem CNN-Interview Auskunft über die derzeitige Situation in Mariupol. Die Hafenstadt sei nach den Kampfhandlungen ohne jegliche Infrastruktur, die einzigen Lichtquellen seien jene der russischen Patrouillen. Die Stadt „riecht nach Feuer, es riecht nach Rauch und nach Tod. Das ist die Realität von Mariupol“, so Andruschtschenko gegenüber der Journalistin Melissa Bell.

Ukrainische Kommandanten weiter in Stahlwerk

Unklar ist weiterhin, wie die Lage im bis zuletzt von ukrainischen Kämpfern gehaltenen Asow-Stahl-Werk aussieht. Das Gros der Kämpfer hat sich ergeben und befindet sich seither in russischer Kriegsgefangenschaft. Einige Kämpfer, darunter vor allem Kommandeure des Asow-Regiments, befinden sich aber noch in den unterirdischen Bunkeranlagen.

Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) berichtete in einer Lageanalyse vom Dienstag, russische Militärblogger hätten kritisiert, dass laut einem Video vom Sonntag russische Soldaten im Stahlwerk weiter vorrücken. Die Blogger betonten, die Armee solle vielmehr warten, bis sich alle ukrainischen Kämpfer ergeben hätten. Am Montag, so die russischen Blogger, sei offenbar nicht versucht worden, weiter vorzudringen. Sie deuteten in ihren Posts aber an, dass russische Kommandanten weiter das Leben von Soldaten für die völlige Einnahme des Werks leichtsinnig aufs Spiel setzen würden.

Schwere Schäden an Asow-Stahl-Werk

Das Asow-Stahl-Werk in Mariupol hat durch die Kampfhandlungen erhebliche Schäden davongetragen. Die Fabrik war zuletzt Schauplatz schwerer Gefechte zwischen russischen und ukrainischen Truppen, ehe Kiew dazu aufrief, den Widerstand im Stahlwerk aufzugeben. Die Kapitulation der weitgehend zerstörten Stadt ist der schwerste Verlust des Landes bisher in dem Krieg, den Kreml-Chef Wladimir Putin am 24. Februar begonnen hat.

Mögliche Hinweise auf Annexionspläne

Russische Behörden versuchen laut ISW unterdessen weiter, die Zivilverwaltung von Mariupol unter ihre Kontrolle zu bekommen. Das ist insofern bedeutsam, als die Separatisten der abtrünnigen „Volksrepublik“ Donezk die Stadt für sich reklamieren. Dass russische Behörden die Verwaltung übernehmen sollen, könnte darauf hindeuten, dass Russland eine Annexion Mariupols und des Landstreifens bis zur Krim plant.

Das ISW verweist zudem auf Aussagen von Andruschtschenko, wonach russische „Freiwillige“ bei Kontrollen im Einsatz sind und tschetschenische Einheiten die Schnellstraßen von Mariupol in von der Ukraine kontrollierte Gebiete in der Oblast Saporischschja patrouillieren.

Russland versucht unterdessen einen Anschein von Normalität wiederherzustellen und gab bekannt, der Hafen sei wieder offen. Darin sitzen seit Kriegsbeginn einige unter internationaler Flagge fahrende Schiffe fest.

Kiew: Russland will Spuren verwischen

Die Ukraine wirft Russland vor, es wolle möglichst alle Spuren der während der monatelangen Belagerung verübten Gräueltaten verwischen. Laut Kiew wurden mobile Krematorien nach Mariupol gebracht und Tote in Massengräbern verscharrt. Russische Luftschläge zerstörten unter anderem ein Geburtsspital und ein Theater, in dem viele Zivilistinnen und Zivilisten Zuflucht vor den Luftangriffen gesucht hatten. Laut einer Recherche der US-Nachrichtenagentur AP kamen allein im Theater fast 600 Menschen ums Leben – doppelt so viele, wie ukrainische Behörden geschätzt hatten.

Bürgermeister: Größter Genozid in Europa seit 1945

Bürgermeister Boitschenko sprach laut der Denkfabrik City Mayors Foundation vom größten Genozid in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Kraft aller Bomben und Raketen, die auf Mariupol abgefeuert wurden, „war größer als die der Atombombe auf Hiroshima“. Viele schwere russische Bomben, die bis zu drei Tonnen wiegen, seien über der Stadt abgeworfen worden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirft Russland vor, einen „totalen Krieg“ zu führen und so viele Menschen zu töten und so viel Zerstörung anzurichten wie nur möglich. Moskau bestreitet, Kriegsverbrechen zu begehen.