Plakat von Gustavo Petro bei einer Wahlveranstaltung
AP/Jaime Saldarriaga
Präsidentschaftswahl

Kolumbien vor historischer Zeitenwende

Am Sonntag wählen die Kolumbianerinnen und Kolumbianer einen neuen Präsidenten. Mit Gustavo Petro ist erstmals in der Geschichte des Landes ein linker Politiker der aussichtsreichste Kandidat. Ein Sieg Petros würde einen historischen Machtwechsel für Kolumbien bedeuten. Doch sicher sei ihm der Sieg noch nicht, sagt der Politologe und Kolumbien-Experte Aaron Tauss im Gespräch mit ORF.at. Denn der Favorit stehe nicht nur vor vielen Herausforderungen, sondern auch vor vielen Feinden.

Kolumbien, das ist das Land mit den weltweit meisten Entführungen und politischen Morden, das Land der Guerillas und Gangs, der Drogenmafia von Pablo Escobar. Das Land der Vertreibung und Vergeltung, der Kriminalität, Korruption und des Klassenkampfes. Kolumbien ist aber auch ein Land unglaublichen Artenreichtums – von den Anden über den Amazonas-Regenwald bis zum Atlantik. Ein Land der kulturellen Vielfalt, der Lebensfreude und – ein Land in Veränderung.

„Vor zehn Jahren wäre es unmöglich gewesen, dass ein Mitte-links-Kandidat wie Petro überhaupt als Favorit in die Präsidentschaftswahl geht“, meint Tauss, der selbst viele Jahre seines Lebens in Kolumbien lebte und an der Nationalen Universität Politikwissenschaft unterrichtete.

Möglicher Linksruck in Kolumbien

Kolumbien ist ein politisch traditionell konservatives Land und enger Verbündeter der USA. Am Sonntag wird in Kolumbien ein neuer Präsident gewählt. Zum ersten Mal ist mit Gustavo Petro ein Linker der aussichtsreichste Kandidat.

„Pacto Historico“ fordert Rechte heraus

Kolumbien gilt als eines der konservativsten, „wenn nicht das konservativste“ Land in Lateinamerika. Petros „Pacto Historico“ (dt.: „Historischer Pakt“), ein Wahlbündnis linker Parteien und Bewegungen, ist angetreten, um das zu ändern. An der Seite des 62-jährigen Wirtschaftswissenschaftlers und Senators kämpft Francia Marquez, afrokolumbianische Anwältin, Vizepräsidentschaftskandidatin und Vertreterin feministischer sowie antirassistischer Bewegungen.

Jahrzehnte der Gewalt durch bewaffnete Konflikte zwischen linken Guerillatruppen, rechten Paramilitärs und der kolumbianischen Armee haben das Land gezeichnet: 220.000 Tote und Millionen Vertriebene – nur eine traurige Bilanz von vielen. Der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vasquez bezeichnet in einem Interview mit der „taz“ die Geschichte Kolumbiens als „Abfolge von Gewalttätigkeiten, die einander ablösen“.

Gustavo Petro und Francia Marquez
Reuters/Luisa Gonzalez
Petro und Marquez – Beobachter sehen in der Vielfalt des „Pacto Historico“ dessen Stärke

Dazu komme die Pandemie, die wie überall auf der Welt auch in Kolumbien die vielen Krisen des Landes zusätzlich verschärfte. Tauss meint: „Weil ganz viele Leute auf legalem Weg nicht überleben können, boomen kriminelle Organisationen.“ Grundlegend für das Anwachsen der Gewalt sei für den Politologen jedoch das „neoliberale und extraktivistische Wirtschaftsmodell, das nur für einen ganz geringen Teil der Bevölkerung ein gutes Leben verspricht.“ Und für den Rest eben bedeutet, „dass das Leben zum Überleben wird“.

Kokain „Kolumbiens wichtigstes Exportgut“

Untrennbar mit der Gewalt verbunden ist der Drogenhandel – nach wie vor einer der bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren im Land. „Kolumbien ist heute ein Land, das mehr denn je vom Drogenhandel geprägt ist. Stärker als zu Zeiten von Pablo Escobar. Kokain ist Kolumbiens wichtigstes Exportgut“, sagt Tauss.

Die mit dem Drogenhandel in Verbindung stehenden Gruppen würden zudem enge Kontakte in die Politik pflegen. „Kolumbien hat sich in den letzten Jahrzehnten in Richtung eines Narcostaats entwickelt.“ Die Anti-Drogen-Politik der Regierung bezeichnet Tauss folglich als „gescheitert“. Ein Ende der Gewalt ist nicht absehbar.

Kokain auf einem Tisch
Getty Images/Tomasz Skoczen
Kokain bestimmt die Wirtschaft Kolumbiens „stärker als zu Zeiten Pablo Escobars“

Friedensprozess ins Stocken geraten

Durch den Friedensvertrag mit der größten Rebellenorganisation FARC konnte 2017 zwar eine Demilitarisierung erreicht werden, allerdings existiert dieser Vertrag laut Tauss primär auf Papier. Die Regierung habe es nicht zustande gebracht, ihre Versprechen einzulösen.

So seien nicht einmal fünf Prozent des gestohlenen Landes an die betroffenen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen zurückgegeben worden. Auch was die Aufklärung von Kriegsverbrechen betreffe, sei „relativ wenig“ passiert. Sowohl der kolumbianische Staat als auch rechte Paramilitärs hätten jede Art von Veränderungsversuchen blutig niedergeschlagen. Trotz des Friedensabkommens „gehen die Konflikte und Bündnisse zwischen Paramilitärs und Guerilla-Fraktionen, Mafia und Militär auf dem Land unvermindert weiter“, schreiben Tauss et al. in einem Beitrag der „Le Monde Diplomatique“ („LMD“).

Massenproteste auf den Straßen

Als der amtierende Präsident Ivan Duque dann auch noch mitten in der Pandemie, als Hunger und Armut extrem gestiegen sind, eine Steuerreform zugunsten der Reichen durchsetzen wollte, entlud sich die Unzufriedenheit der Büger und Bürgerinnen in Protesten. Menschen gingen landesweit auf die Straßen, um mit Blockaden und Molotowcocktails zuerst gegen die Reformpläne und danach ganz allgemein gegen die Regierung zu protestieren. Die Polizei reagierte mit brutaler Gewalt auf die Demonstrationen.

Die Aufbruchsstimmung habe dennoch seit den Protesten nicht mehr nachgelassen, wie das Nachrichtenpool Lateinamerika (NPLA) schreibt. „Angestoßen durch den Friedensprozess nach 2016 begann sich in Kolumbien ein tiefgreifender Wandel der politischen Kultur und des sozialen Protests zu vollziehen.“

Gesellschaftlicher Umbruch Aufwind für Petro

Das linke Bündnis habe diese Veränderungen erkannt und viele der neuen Forderungen in ihr Wahlprogramm integriert. Petros Vision vom politischen Wandel greife den Wunsch nach Frieden und die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit auf, die die kolumbianische Gesellschaft auf die Straße getragen habe.

„Vieles ist in der kolumbianischen Gesellschaft in den letzten Jahren im Umbruch, und weite Teile der Bevölkerung, insbesondere die Jugend, fühlen sich angesprochen vom Wahlprogramm der Linken, das Umverteilung, Frieden und Korruptionsbekämpfung verspricht“, ist dort zu lesen. Die Stimmung scheint Petro Aufwind zu verleihen: Aus der Parlamentswahl im März ging das Wahlbündnis als Sieger hervor, in den Umfragen zur Präsidentschaftswahl liegt Petro ungeschlagen an erster Stelle.

Demonstration in Kolumbien
Reuters/Twitter/@LeoGuzmanbaq
Vergangenes Jahr gingen landesweit Tausende Kolumbianerinnen und Kolumbianer aus Protest gegen die Regierung auf die Straße

Linksbündnis plant grundlegende Reformen

„Petro steht für eine Demokratisierung des politischen Systems und der Wirtschaft“, verweist Tauss auf die sozialdemokratisch-reformistischen Ansätze des Kandidaten. „Was er will, ist eine Modernisierung des Kapitalismus in Kolumbien. Seine Politik zielt auf die Umverteilung von Reichtum ab, auf mehr Investitionen in Sozialprogramme, in Bildung, in Gesundheit, aber auch eine Verbesserung des Pensionssystems.“

Zudem strebe Petro eine grundlegende Reform der Justiz an, die zum Ziel hat, „diesen autoritären, repressiven Apparat, also Militär, Geheimdienst und Polizei, wieder unter zivile Kontrolle zu bekommen“. Derzeit würde vor allem das Militär wie ein eigener politischer Akteur handeln, sagt Tauss und spricht von einem „tiefen Staat“.

Kampf gegen kriminelle Strukturen auf der Agenda

Petro, selbst Ex-Guerillero, habe auch bereits angekündigt, kriminelle Strukturen bekämpfen und den Friedensprozess wiederaufzunehmen. Die Macht der Drogenkartelle zu brechen, bezeichnen Fachleute als „eine Herkulesaufgabe“.

NPLA schreibt dazu: „Paradoxerweise hat sich im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen ausgerechnet die linke Position zu den bewaffneten Konflikten zu einem ihrer wichtigsten Trümpfe entwickelt.“ Die Anschuldigungen der Rechten, die linke Politik sei von der Guerilla unterwandert, „scheinen ihre Wirkung verloren zu haben“.

Lanschaft in Salento, Kolumbien
Getty Images/EyeEm/Alexandra Nezhybova
Kolumbien ist weltweit das artenreichste Zentrum der Megadiversität – geht es nach Petro, soll das auch so bleiben

Klima als Wahlkampfthema

Was das Wirtschaftsprogramm Petros betrifft, so setzt dieser laut Tauss auf eine Umstellung von Export zu Produktion. Denn „auch abseits vom Drogenhandel ist Kolumbien ein exportorientiertes Land.“ Neben Erdöl und Erdgas werden etwa auch Metalle exportiert.

Als Argument, um grundlegende wirtschaftliche Veränderungen voranzutreiben, diene Petro nichts Geringeres als die Klimakrise: Kolumbien müsse mittelfristig seine produktiven und industriellen Kapazitäten stärken – nicht nur um die Massenarbeitslosigkeit zu bewältigen, sondern eben auch um von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen wegzukommen, so die Argumentation. Konkret bedeutet das: Wirtschaftliche Interessen dürften nicht mehr auf der Ausbeutung der Natur und der Ausbeutung der kolumbianischen Mehrheitsbevölkerung basieren.

Schon jetzt zeigen sich die Auswirkungen der Klima- und Biodiversitätskrise: Während die Menschen in den Riesenstädten wie Bogota und Medellin vor allem unter der Luftverschmutzung leiden würden, käme es in den ländlichen Regionen oft zu Wasserverschmutzungen durch Bergbauprojekte und zu Konflikten mit lokalen und indigenen Gemeinschaften. Auch durchziehen das ganze Land Großprojekte zur Rohstoffnutzung, was zu unwiderruflichen Umweltschäden in einem der vielfältigsten Ökosystemen der Welt führt.

Stadtansicht von Bogota, Kolumbien
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Megastädte wie Medellin und hier Bogota leiden stark unter der Luftverschmutzung

Gutierrez „Kandidat des Establishments“

Dem Umwelt- und Klimaschutzbedenken stünden freilich die Interessen großer transnationaler Konzerne gegenüber. Diese zu bedienen, weiß der Herausforderer Petros: Federico Gutierrez, auch „Fico“ genannt. Er sei der Kandidat des Establishments, er glaube an die Kraft der Märkte und an das Unternehmertum.

„Gutierrez steht für eine Weiterführung des herrschenden Modells, politisch wie auch wirtschaftlich“, analysiert Tauss. Im Fall eines Wahlsieges würde er die Politik des amtierenden Präsidenten Ivan Duque und von dessen Vorgänger weiterführen. Gutierrez selbst bestreitet das in sozialen Netzwerken.

Der kolumbianische Präsidentschaftskandidat Federico Gutierrez
Reuters/Luisa Gonzalez
Der Konservative Federico „Fico“ Gutierrez gilt als Kandidat des Establishments

Von Medien bis Militär: Petros viele Feinde

Neben großen Kapitalgruppen würden sich derzeit auch die Medien auf Petro einschießen, erzählt Tauss: „Mediale Attacken gegen Petro haben stark zugenommen“, schließlich befänden sich die meisten Medienunternehmen in der Hand reicher kolumbianischer Familien und internationaler Investoren, so Tauss. Das Medienklima sei konservativ und rechtslastig.

Mit seinem Programm machte sich Petro also viele Feinde: die traditionellen politischen Eliten, die Medien und Multis, das Militär, Polizei und nicht zuletzt auch die Drogenkartelle. Dazu kommt: „Brückenbauen – das ist nicht die Stärke von Gustavo Petro. Er weist in Sachen Kompromissfähigkeit keine Erfolgsbilanz auf. Petro war bis jetzt nicht besonders gut darin, Gemeinsamkeiten mit dem politischen Gegner zu finden“, so der Politikanalyst Sergio Guzman gegenüber dem ORF in Bogota.

Experte schließt Militärputsch nicht aus

Vor diesem Hintergrund kann es laut Tauss nicht ausgeschlossen werden, dass es bei der Wahl zu Manipulationen kommt. Internationalen Medienberichten sowie der Wahlbeobachtungsstelle MOE zufolge sei bereits der Wahlkampf stark von Gewalt und Einschüchterungsversuchen geprägt gewesen – inklusive Morddrohungen gegen die Kandidaten. Zugleich meint Tauss: Falls es zu einem Wahlsieg komme und es Petro tatsächlich gelinge, grundlegende Reformen anzustoßen, könnte das auch einen Militärputsch mit sich ziehen, so Tauss, der von einem Anstieg der Gewalt ausgeht.

Bereits jetzt würde die kolumbianische Rechte vor einer Bedrohung für die Demokratie warnen und das „Gespenst des Kommunismus“ im Vergleich mit Venezuela beschwören. Venezuela – das ist in Lateinamerika mittlerweile ein Begriff für Diktatur, sozialistische Mangelwirtschaft und Elend. Ein absurder Vorwurf entgegnet Petro, wie im Ö1-Mittagsjournal zu hören ist:

Stichwahl wahrscheinlich

Ein Sieg in der ersten Runde ist Tauss zufolge aber ohnehin noch nicht fix. Wie viele Beobachter und Beobachterinnen geht auch er von einer Stichwahl Ende Juni zwischen Petro und Gutierrez aus. Ein Wahlsieg Petros wäre ein wichtiger Teil einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung und erfülle den Wunsch vor allem der jüngeren Generation, „ein friedlicheres, demokratischeres und gerechteres Land zu schaffen“.

„Es ist ein Signal für verschiedene soziale Basisorganisationen, Umweltgruppen, feministischen Gruppen, kleinbäuerlichen Gruppen, indigene Gruppen, dass es wirklich zu Veränderung kommen kann. Und es sich lohnt, sich politisch zu engagieren und für ein gerechteres Kolumbien zu kämpfen“, meint Tauss.

Klar ist: Ein Sieg Petros würde nicht nur „auf nationaler Ebene eine Zeitenwende bedeuten, sondern auch auf regionaler Ebene. Es könnte wirklich zu einer neuen Linkswende in Lateinamerika kommen“, prognostiziert Tauss.