Feministisches Handzeichen
Reuters/Susana Vera
Spanien

Wo feministische „Utopie“ zum Gesetz wird

Krankenstand bei Periodenschmerzen, sichere Abtreibungen für alle ab 16, Konsens beim Sex, Verbot von „Catcalling“ – feministische Forderungen, die weltweit von den meisten wohl als „utopisch“ abgetan werden, sind in Spanien kürzlich in Gesetze gegossen worden. Das Land gilt generell als eines der progressivsten, was Gleichstellungspolitik betrifft. Warum das so ist und was das für den Rest der Welt bedeutet, erklärt die Politikwissenschaftlerin und Genderforscherin Judith Goetz im Gespräch mit ORF.at.

„Die feministische Bewegung schreibt Geschichte in Spanien“, kommentierte die spanische Gleichstellungsministerin Irene Montero die neue Reform des „Gesetzes der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs“ Ende Mai. Montero gehört dem Juniorpartner der Koalition an, der Partei Unidas Podemos (UP), und setzt sich neben Frauenrechten laut eigener Aussage für eine „neue sexuelle Kultur“ im Land ein.

Rückhalt bekommt sie von niemand Geringerem als dem Ministerpräsidenten selbst – Pedro Sanchez, der mit seiner Partido Socialista Obrero Espanol (PSOE) für ein „feministisches Spanien“ und für „echte Gleichheit“ eintritt. Spanien, das Land des Machismus, Konservatismus und Katholizismus, als feministisches Eldorado? Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Spanien liegt auf dem europäischen Gleichstellungsindex in vielen Bereichen tatsächlich weit vorne.

Infografik zur Gleichstellung von Männern und Frauen in Spanien
EIGE/ORF.at

Immer neue Wellen von „Tsunami des Feminismus“

Goetz führt die rechtlichen Verbesserungen auf ein „Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren“ zurück: „Hierzu zählt natürlich die aktuelle Regierung mit ihrem klaren Bekenntnis zu Feminismus und Frauenrechten. Ihre Zusammensetzung mit überdurchschnittlich vielen Frauen – vor allem Ministerinnen, die entsprechende Anliegen ernst nehmen sowie einem Ministerpräsidenten, der sich selbst als Feminist versteht und damit auch Agenda Setting betreibt.“

Judith Goetz
Nurith Wagner-Strauss
Judith Goetz ist Politikwissenschaftlerin und Genderforscherin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Uni Innsbruck und bezeichnet sich selbst als Feministin.

Dazu komme eine starke feministische Bewegung als politisch treibende Kraft. Diese würde, oft ausgelöst von aktuellen Ereignissen, feministische Anliegen auf die Straße tragen, Massen mobilisieren und somit Druck auf die Politik ausüben. Als Beispiel nennt Goetz den feministischen Streik am Weltfrauentag vor vier Jahren. Als 2018 mehr als fünf Millionen Menschen Spanien lahmlegten, sei von einem „Tsunami des Feminismus“ die Rede gewesen. Dieser bebe nach wie vor und schlage „immer wieder neue Wellen“, so Goetz.

Dass die feministische Bewegung in Spanien nicht nur lauter, sondern auch wirkungsvoller ist, liege folglich auch in ihrer Fähigkeit, Massen zu mobilisieren. Die kämpferische Parole „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ sei in Spanien eben keine leere Worthülse.

Demonstration in Bilbao 2018
Reuters/Vincent West
Mehr als fünf Millionen Menschen beteiligten sich am Weltfrauentag 2018 am Generalstreik für Gleichberechtigung

Spanien bei Frauenrecht „europäische Avantgarde“

Was die konkreten Gesetze betrifft, meint Goetz: „Spanien zählt in vielerlei Hinsicht zur europäischen Avantgarde, wie sich beispielsweise daran zeigt, dass bereits 2004 ein Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt verabschiedet wurde, das Frauen vor Übergriffen durch ihre Partner schützen soll.“ Durch feministische Bewegungen sei es hier zu einer Politisierung patriarchaler Gewalt gekommen. Heute wie damals war die PSOE an der Macht. Als Regierungschef Jose Luis Rodriguez Zapatero (PSOE) vier Jahre später erneut sein Amt als Regierungschef antrat, ernannte er eine im siebenten Monat schwangere Frau zur Verteidigungsministerin.

Und: Als 2011 die konservative und christdemokratische politische Partei Partido Popular (PP) an die Macht kam und 2012 die Abtreibungsgesetze verschärfen wollte, kam es zu großen Massenprotesten. Der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy geriet so stark unter Druck, dass er bei einem seiner zentralsten Wahlversprechen, nämlich einem gänzlichen Verbot von Abtreibungen, gezwungen war, wieder zurückrudern.

Bewegung mit kämpferischer Geschichte

Generell sei die Geschichte feministischer Bewegungen in Spanien von „zahlreichen Fort- und dann auch wieder Rückschritten“ geprägt, meint Goetz. Dazu zähle beispielsweise die kämpferische Geschichte von Frauen im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschismus und das daraus resultierende Verständnis, „dass soziale Kämpfe tatsächlich zu Verbesserungen für Frauen führen können“. Die Diktatur Francisco Francos bedeutete indes „einen einzigen Rückschritt für Frauenrechte“. In den späten 70ern und frühen 80ern wurden feministische Kämpfe wieder aufgenommen – und „bis heute fortgesetzt“, so Goetz.

Demonstration am Frauentag in Barcelona
APA/AFP/Lluis Gene
Egal welche Hautfarbe, welches Alter, welche Religion – „intersektionaler Feminismus“, wie auf dem Plakat steht, schließt alle ein

Vorbildfunktion für Rest Europas

Feministische Bewegungen aus Spanien, aber auch aus Lateinamerika und der Karibik würden Goetz zufolge eine „wichtige Rolle“ einnehmen – nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene: als „Vorbilder für Europa“. Politisch relevante Akteure und Akteurinnen könnten sich „durchaus etwas von den Debatten in Spanien abschauen“, so Goetz.

So würden in Spanien etwa Ministerinnen und Bürgermeisterinnen an Demonstrationen am Weltfrauentag teilnehmen. In Österreich hingegen habe eine ehemalige Frauenministerin der ÖVP nicht einmal das Frauenvolksbegehren unterschrieben (Juliane Bogner-Strauß, Anm.), die aktuelle bezeichne sich selbst nicht als Feministin und gebe an, noch nie Sexismus erfahren zu haben. Und: Genderthemen würden hierzulande oftmals hinten angestellt werden, „wenn es um den Koalitionsfrieden mit konservativen Parteien geht“, kritisiert Goetz. Und all das, „obgleich Österreich beispielsweise im EU-Durchschnitt Spitzenreiter bei Femiziden ist“.

Netflix gegen Machismo?

Zwar seien auch in Spanien Sexismus, Antifeminismus und Queerfeindlichkeit weit verbreitet, was „auf die andauernde katholische Prägung des Landes sowie den nicht aussterben wollenden Machismo zurückzuführen ist“, dennoch habe sich in den vergangenen Jahren eben „einiges in puncto Gleichstellungspolitik getan“.

Das spiegle sich etwa auch im Bereich der Einstellungen wider. Laut Barometer für Jugend und Gender bezeichnen sich rund zwei Drittel der unter 30-jährigen Mädchen und Frauen als Feministinnen und rund ein Drittel der 30-jährigen Burschen und Männer als Feministen. Nicht zuletzt dürfte hier wohl auch die spanische Populärkultur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, etwa spanische Netflix-Serien, die ein progressives Frauenbild transportieren, indem sie „starke“ Frauen porträtieren und das Verhältnis von Geschlechterrollen- und -identitäten häufig in den Fokus rücken.

Spanische Gleichstellungsministerin Irene Montero
APA/AFP/Pierre-Philippe Marcou
Die 34-jährige Gleichstellungsministerin Irene Montero kämpft für mehr Frauenrechte in Spanien

Feministische Politik „machbar und umsetzbar“

Zusammenfassend meint Goetz: „Spanien fungiert als positives Beispiel dafür, dass feministische Politik machbar und umsetzbar ist.“ Angesichts der in den USA vorherrschenden Debatte über eine Verschärfung des Abtreibungsrechts zeige sich, dass es aktuell zwei parallele Entwicklungen gebe. „Auf der einen Seite lassen sich viele rechtliche und gesellschaftliche Verbesserungen für Frauen und queere Personen feststellen, gleichzeitig ist aber seit geraumer Zeit auch der Gegenwind gegen entsprechende Entwicklungen im Sinne eines gesellschaftlichen Backlash spürbar.“

Gerade Antifeministinnen würden seit jeher versuchen, feministische Verbesserungen wieder rückgängig zu machen und weitere zu behindern – teilweise mit Erfolg. „Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass bestehende Geschlechterverhältnisse tatsächlich immer mehr ins Wanken gekommen sind und männliche Überlegenheitsvorstellungen schon lange nicht mehr widerstandslos hingenommen werden“, so Goetz.

Auf die Frage, ob sich feministische Politik auf der Welt eher in eine progressive oder rückwärtsgewandte Richtung entwickle, meint die Genderforscherin: „Ich würde sagen, dass es keinen globalen Trend gibt, der in die eine oder andere Richtung weist, sondern viele Kämpfe, die parallel stattfinden und deren Ausgang noch nicht abgeschlossen ist.“