Ungarischer Viktor Orban
APA/AFP/Emmanuel Dunand
Orban macht es vor

Zugeständnisse bremsen EU-Sanktionen

Noch Anfang der Woche hat die EU einen Durchbruch bei den Sanktionen gegen Russland vermeldet und die Einheit in der Union beschworen. Nur wenige Tage später sorgte Ungarn jetzt für neue Aufregung und drohte einmal mehr mit einem Veto für das eigentlich bereits gefeierte sechste EU-Sanktionspaket: Letztlich gab es neue Zugeständnisse. Premier Viktor Orban steht dadurch zunehmend isoliert da. Weitere Vetos könnten künftige EU-Sanktionen komplett ausbremsen.

Erst war Ungarn mit dem Ölembargo nicht einverstanden, diesmal waren es die Sanktionen gegen das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, die Budapest offenbar von einer Zustimmung zum sechsten Sanktionspaket abhielten. Untertags gab es Meldungen in alle Richtungen, einmal, dass Ungarn zustimmt, einmal, dass sich Ungarn querlegt. Schließlich gaben die restlichen EU-Länder nach – der Patriarch wurde aus dem Sanktionspaket genommen. Damit fehlt nur noch die letzte Unterschrift der EU-Botschafter – diese soll am Freitag folgen, einen Monat nach Ankündigung des Paketes.

Nach dem Sondergipfel der EU-Staats- und -Regierungschefs am Beginn der Woche sah es so aus, als hätte die Union ihr Gesicht noch einmal wahren können. Doch angesichts eines „verwässerten“ Paketes, wie es EU-Expertin Sophie Pornschlegel vom European Policy Centre (EPC) bezeichnete, einer verlängerten Wartezeit auf eine Einigung und einem weiteren Zugeständnis an Budapest wirkt es so, als wäre das sechste Sanktionspaket in Bezug auf die Strafmaßnahmen der EU womöglich schon das Ende der Fahnenstange.

Ukraine hofft auf weiteres Paket

Dabei drängt die Ukraine schon auf neue Sanktionen: Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte nach der – vermeintlichen – Einigung der EU-Staaten am Wochenbeginn: „Letzten Endes sollte es gar keine nennenswerten wirtschaftlichen Verbindungen mehr zwischen der freien Welt und dem Terrorstaat geben.“ Ein siebentes Paket soll nach dem Wunsch der Ukraine her, sobald das sechste umgesetzt sei.

Ungarischer Viktor Orban mit finnischer Premierministerin Sanna Marin
AP/Olivier Matthys
Orban (l.), hier im Gespräch mit Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin, stellt die EU auf eine Geduldsprobe

Abfuhr für Gasembargo könnte Sanktionen ausbremsen

Im Raum steht natürlich die weitere Loslösung von russischer Energie – das bedeutet wohl unumgänglich: Gasembargo. Noch während des Gipfels hieß es von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), dass ein solches jedoch „kein Thema“ sei. Auch Deutschlands Kanzler Olaf Scholz (SPD) winkte schon im Voraus ab. War schon die Einigung auf das sechste Paket mehr als mühsam, dürfte ein Veto aus Berlin die Hoffnung auf das Zustandekommen eines siebenten Paketes drastisch minimieren.

„Ich denke, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass es ein umfassendes siebentes Sanktionspaket geben wird“, sagte auch Pornschlegel auf neuerliche Anfrage von ORF.at. Für sie sei es „wahrscheinlicher“, dass es „noch Ergänzungen gibt“, also etwa eine Erweiterung der Liste mit Einreiseverboten für Personen aus Russland und zu bestimmten Industriesektoren.

Expertin: Sanktionen stoppen Krieg nicht

Gleichzeitig stellte sie infrage, wie wirksam neue Maßnahmen überhaupt wären. „Sanktionen haben in der Geschichte selten dazu geführt, dass ein Krieg gestoppt wurde“, so Pornschlegel. Ziel sei es, Russland wirtschaftlich zu schaden – „und solange es kein Gasembargo ist, ist das nur begrenzt der Fall“. Das weitere Vorgehen der EU würde stark vom Kriegsverlauf abhängen – „sowie vom politischen Willen der 27 Mitgliedsländer“. Deutschlands Zögern könnte jedenfalls ein schnelles Vorankommen verhindern.

Analysen aus Brüssel und Budapest

ORF-Korrespondent Robert Zikmund meldet sich aus Brüssel und spricht über die Folgen der Blockade durch Ungarn für das Ölembargo gegen Russland. ORF-Korrespondent Ernst Gelegs berichtet aus Budapest, welche Änderung der ungarische Premier im Sanktionspaket der EU fordert.

Vom anfänglichen – überraschend – schnellen Handeln der EU ist mit den aktuellen Bemühungen um neue Sanktionen nicht mehr viel übrig. Pornschlegel befürchtet, dass eine weitere „Normalisierung“ der Situation dazu führen könnte, dass die Entscheidungsträgerinnen und -träger in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen „weniger den Bedarf sehen, die EU ambitioniert voranzubringen“.

Einstimmigkeit als Hemmschuh

„Das Risiko des Status quo der langsamen Entscheidungsfindung ist größer als jenes der Fragmentierung. Abwarten, bis alle Länder an einem Strang ziehen (…) ist nicht die richtige Strategie, wenn ein Krieg an unseren Grenzen geführt wird“, heißt es in einem Papier des Thinktanks EPC. Die Forderung nach der Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips unter den Mitgliedsländern wurde schon im Anschluss an den Sondergipfel laut. Die neuerliche Aufregung aufgrund der Bedenken Ungarns könnte diese Debatte weiter anfachen.

Doch während das wohl ein langfristiges Unterfangen werden könnte, gibt es aktuell bereits Druck auf Ungarn: Denn anders als in der Vergangenheit steht Orban diesmal recht alleine da. Polen, das EU-Pläne oft skeptisch sah und deren umstrittene Justizreform gar zu einem handfesten Streit mit der Kommission führte, befindet sich durch den Krieg in einer komplett anderen Situation.

Denn seit Kriegsbeginn sind bereits mehr als 3,5 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen angekommen. Die polnische Hilfsbereitschaft wurde immer durch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen positiv hervorgehoben – und bei Sanktionen legte man sich nicht quer. Am Mittwoch kam die EU nun Warschau entgegen und kündigte grünes Licht für die monatelang blockierten CoV-Hilfsgelder in Milliardenhöhe an.

Ungarn alleine auf weiter Flur

Auch das könnte ein Zeichen in Richtung Ungarn gewesen sein. Nicht zuletzt gingen die anderen Visegrad-Staaten in den vergangenen Wochen ebenfalls eher auf Distanz zu Ungarn. Umso mehr, als Orban letzte Woche handstreichartig sein seit Jahren andauerndes Regieren per Notverordnung erneut verlängerte: Nach Flüchtlingen und Pandemie ist nun der Ukraine-Krieg der Vorwand dafür, demokratische Regeln weitgehend auszuhebeln und den Umbau zu einer illiberalen „Demokratie“ weiter voranzutreiben.

Europaabgeordneter Zdechovsky: Beziehung mit Ungarn nicht mehr so gut

Der tschechische Europaabgeordnete Tomas Zdechovsky von der Europäischen Volkspartei sagt im Gespräch mit Brüssel-Korrespondentin Raffaela Schaidreiter, dass das Verhältnis von Prag und Ungarn gelitten habe. „Niemand“ in den Visegrad-Staaten habe so gute Beziehungen zu Russlands Präsident Wladimir Putin wie Ungarn, so Zdechovsky.

Angesichts des Streits um das Sanktionspaket war dieser neuerliche Affront für Europa und Verstoß gegen europäische Grundprinzipien beinahe untergegangen. Brüssel scheint derzeit auf dem kürzeren Ast zu sitzen. Die Frage ist, ob Orban dem steigenden Druck standhält, wie er sich zu neuen Sanktionen – oder zumindest der Aufhebung von erwirkten Ausnahmen – verhält und ob die EU gar weitere Kompromisse in Erwägung zieht.

Denn es wird ihr wohl ein großes Anliegen sein, weitere Sanktionen auf den Weg zu bringen – auch wenn ein neues Paket zu diesem Zeitpunkt in weiter Ferne scheint. Der wichtigste Hebel ist dabei der gleiche wie immer: Geld. Denn ohne die Milliardenhilfen Brüssels, so zeigen sich Kritiker der EU-Zurückhaltung gegenüber Budapest seit Langem überzeugt, würde Orban wohl innenpolitisch längst ein rauerer Wind entgegenwehen.