Jungle Book reimagined von Akram_Khan
Ambra Vernuccio
Beispiel „Dschungelbuch“

Die Welt muss sich neu erzählen

Nicht Pandemie und Krieg haben alte Selbstverständlichkeiten infrage gestellt. In der alten, weißen Welt ist nichts mehr, wie es war – und gerade Kulturpublizisten werden ja nicht müde zu lamentieren, dass sie etwa als ältere, weiße Männer zu einer Art Ausschussware gehörten. Dabei zeigen Kunstfestivals wie das im Juli startende ImPulsTanz-Festival vor, worum es geht: die Mythen, die wir mit uns tragen, in die Bedürfnisse einer neuen Zeit zu bringen – aber aus alten Botschaften zu lernen. Das „Dschungelbuch“ etwa kann ganz leichtfüßig den Mantel des Kolonialismus ablegen.

„Wir leben in einer neuen Welt, in der alte Selbstverständlichkeiten nicht mehr tragen“ – das sagt der auch schon an den Locken leicht grauer werdende belgische Choreograf Wim Vandekeybus am Donnerstag im Casino am Schwarzenbergplatz. ImPulsTanz-Chef Karl Regensburger hatte mit einer breiten Riege von Künstlerinnen und Künstlern geladen, um das Programm seines Tanzfestivals vorzustellen. Tatsächlich wurde das Ganze aber auch zu einem Symposium über die Orientierungssuche in einer Welt, in der tatsächlich der Kunst wieder eine neue Rolle zukommen kann. Und diese Rolle der Kunst ist weniger elitär als elementar.

Ab dem 7. Juli bis in den August hinein wird das Festival mit seinen 56 Performances, etlichen Uraufführungen, zahlreichen Workshops im Arsenal für alle und Interventionen auf Straßen und Theatern eigentlich nicht weniger leisten, als unser kulturelles Selbstbild herauszufordern – und jene Antworten in den Fokus zu stellen, in denen das tragende Gerüst alter Mythen, gerade in Form von Performances, Tanz und allen darüber und dazwischen liegenden Genres neu auszudeuten.

Impulstanz
ORF.at
Karl Regensburger (Mitte), Wim Vandekeybus (mit dem Mikro) und eine Schar an Performern beim ImPulsTanz 2022 bei der Vorstellung am Donnerstag im Casino am Schwarzenbergplatz

Themen zählen, nicht gut bekannte Namen

Dass bei ImPulsTanz eine Reihe großer, in Wien gut bekannter Namen ihr Programm vorstellen, muss man gar nicht extra erwähnen (und noch weniger selbstverständlich nehmen): Anne Teresa de Keersmakers ist da, Jan Lauwers mit der Needcompany, und Wim Vandekeybus. Der notorische Wien-Bespieler feiert hier das 35-jährige Bestehen seiner Ultima-Vez-Compagnie, huldigt dann noch dem verstorbenen Festivalmitgründer Ismael Ivo – und unterrichtet auch noch Klassen. Es ist das Programm und gerade die Erkundung des Nicht-mehr-Selbstverständlichen, das dieses Festival ausmachen wird – und sehr viel mehr als Eingeweihte einladen kann, was die Verunsicherungen der letzten Jahre mit uns gemacht haben.

Das Programm im Re-Mix, Teil 1

Von einer selbstverständlich gewordenen Standpunktsuche berichtet bei der Eröffnungspressekonferenz etwa der schwarze Tänzer und Performance-Künstler William Briscoe, der von der Bedeutung der Ballroom-Szene in Harlem und der Rolle von Voguing, also dem Tanzstil der marginalisierten homosexuellen Subkultur New Yorks, berichtet.

„Notwendigkeit eines neuen Zusammenhalts“

Die an Pina Bausch geschulte Südafrikanerin Dada Masilo wird mit ihrer Dance Factory im Rahmen der Performance „The Sacrifice“ gerade das Moment der Identitätsbildung aus dem Motiv des Rituals ableiten. „Sprachen“, erzählt sie, „sind in Südafrika ein Medley, weil es einfach so viele gibt. Aber es gibt darunter die Sprache des Rituals, die einem zumindest helfen kann, sein eigenes Erbe zu reflektieren.“ Sie wiederholt im Rahmen dieser Pressekonferenz, was andere auch sagen: Die Pandemie habe die Notwendigkeit eines neuen Zusammenhalts gestärkt. Aber, so auch der Hinweis: Dieser könne nur funktionieren, wenn alle Menschen ihre jeweilige Identität anerkennen würden.

Fotostrecke mit 4 Bildern

Tanz-Workshop
Marta Lamovsek
Das Arsenal wird wieder zum Ort, an dem alle mitmachen sollen
Mystery Sonatas for Rosas Mystery von Teresa DeKeersmaeker
Anne Van Aerschot
„Mystery Sonatas“ von Anne Teresa De Keersmaeker
Needcompany All the good von Jan Lauwers
Maarten Vanden Abeele
„All the Good“ – die Needcompany von Jan Lauwers ist 2022 wieder dabei
Hands do not touch your precious Me von Wim Vandekeybus
Danny Willems
„Hands do not touch your precious me“ von Wim Vandekeybus

Der eigene Kanon wird neu perspektiviert

So werden viele Performances genau den Kanon der eigenen Kultur hinterfragen. Auch, indem man sich hinauswagt, wie etwa Vandekeybus mit seiner neuen Arbeit zum 4.000 Jahre alten Hymnus der sumerischen Göttin Inanna, um die verschiedenen Zustände der eigenen Geschichte zu erzählen. „Hands do not touch your precious me“ heißt das Werk, das sich der Zusammenarbeit mit dem französischen Künstler Olivier de Sagazan verdankt, der Vandekeybus mit dem Prinzip der archaischen Transformation und dem Arbeiten mit flammenden Köpfen und alten Masken bekannt gemacht hat. Erneut wird Vandekeybus Teil der Performance sein. Das aus einem einfachen Grund, wie er mit einem Verweis auf Hannah Arendt argumentiert: „Es ist unmöglich, die eigene Geschichte zu erzählen, das können nur die Leute, die dir nahe stehen.“ Aber an dieses Ergründen der eigenen Geschichte wolle er sich wie ein Erzähler auf der Bühne stellen.

Impulstanz
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Die neuen Stars beim ImPulsTanz 2022: William Briscoe und W1ZE

Mowgli wird zum Mädchen mit neuem Auftrag

Dass man die klassische Erzählung auf neue Beine stellen muss, dass will die Kompanie von Akram Khan beweisen. Mit dem „Jungle Book reimagined“ wird die koloniale Geschichte dieses Klassikers von Rudyard Kippling abgestreift. Das „Dschungelbuch“ spielt nicht mehr in einer verklärten Vergangenheit, sondern in einer Zukunftslandschaft, die schon alleine vom Klimawandel komplett entstellt erscheint.

Das Programm im Re-Mix, Teil 2

Mowgli ist nicht mehr ein Bub, sondern genau das junge Mädchen, das er am Ende seiner Reise in der Ursprungserzählung kennen gelernt hat. Die Heldin Mowgli muss sich ganz neuen Herausforderungen und der Bedrohung jener Welt gerade rund um sich stellen. Poetisch und dezidiert poetisch ist diese Performance angelegt, mit der sich das Festival im Rahmen einer zusätzlichen Nachmittagsperformance auch an ein junges Publikum wenden will.

Lernen von den Alten

Eine der eindringlichsten Performances des Festivals könnte im Museum für Moderne Kunst zu erleben sein. Die ungarisch-rumänische Performerin Boglarka Börcsök stellt sich in „Figuring Age“ dem, wie sie sagt, „Wissen des alten Körpers“. Börcsök hat für dieses Projekt über neunzigjährige Ausdruckstänzerinnen aus Ungarn aufgespürt, die die Körperwahrnehmung in Ungarn geprägt haben. Noch einmal dokumentierte sie auf Film deren Möglichkeiten, sich im hohen Alter zu bewegen. Zu den aufgenommenen Videosequenzen wird die Künstlerin die Geschichten der Frauen noch einmal als Reenactment nacherleben – ein Vorgang, den sie selbst schon in der Aneignung als gespenstisch, aber in einem positiven Sinne, beschreibt. Das Wissen dieser Frauen, so der Hintergrund ihrer Arbeit, möge an eine neue Generation, gerade auch über die Grenzen politischer Differenzen, weitergegeben werden.

Was die Schichten anlangt, setzt das Festival vom 7. Juli bis zum 7. August auf eine komplette Breite: die klassischen Performancebesucher, die Jungen, die man mit einer eigenen „Festival Lounge“ (gemeinsam mit FM4) ansprechen will. Und alle, die in der Stadt leben, mit dem Programm „Public Moves“, das hinaus bis in die Donaustadt geht. ORF.at wird das Festival ab Anfang Juli mit einem eigenen Sonderkanal begleiten. Schwerpunkte zum Festival wird es auch auf FM4 und in ORF III geben.