Silos hinter einem Getreidefeld in der Ukraine
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Ukraine

Bereits 600.000 Tonnen Weizen gestohlen

Abseits der von Russland blockierten Exportwege über das Schwarze Meer beklagt die Ukraine den anhaltenden Diebstahl von Weizen im großen Stil. Ukrainischen Angaben zufolge habe Russland mittlerweile 600.000 Tonnen Getreide aus den besetzten Gebieten im Süden der Ukraine gestohlen und ins Ausland verschifft. Während Russland die Vorwürfe bisher strikt dementiert, war von britischer Seite zuletzt von einem „sehr ernsten“ Problem die Rede – die USA haben einem Medienbericht zufolge zudem mögliche Abnehmerländer vor dem Kauf von gestohlenem Weizen aus der Ukraine gewarnt.

Der Vizechef des ukrainischen Agrarrates Public Union, Denys Martschuk, bezeichnete die russische Vorgangsweise nun als „eine gut geplante Operation der Besatzer“. Das Getreide sei aus den besetzten Gebieten im Süden der Ukraine auf die von Russland kontrollierte Krim gebracht und über den Hafen von Sewastopol Richtung Naher Osten verschifft worden, so CNN mit Verweis auf eine von Martschuk am Mittwoch veröffentlichten Aussendung.

Der US-Sender berichtete wie andere Medien bereits zuvor von Lkw-Konvois, die Getreide von Bauernhöfen und Silos aus den von Russland besetzten Gebieten auf die Krim gebracht haben sollen. In sozialen Netzwerken tauchen immer wieder Videos mit voll beladenen Lastwagen auf, so das Schweizer Nachrichtenportal Watson mit Verweis auf ein Posting der stellvertretenden ukrainischen Außenministerin Emine Dschaparowa, die via Twitter die russische Vorgangsweise mit jener der Sowjets rund um die als Holodomor bekannte Hungersnot der frühen 1930er Jahre verglich.

Die Vorwürfe des Getreidediebstahls durch Russland waren nach Angaben der britischen Landwirtschaftsministerin Victoria Prentis am Dienstag auch Thema auf einer Konferenz des Internationalen Getreiderats (IGC) in London. Sie habe die Vorwürfe des Getreidediebstahls durch Russland aus erster Hand von Quellen in der südukrainischen Region Cherson, so Prentis, die gegenüber Reuters eine sofortige Untersuchung der Vorwürfe forderte.

„NYT“: US-Warnung an 14 Länder

Auch US-Außenminister Antony Blinken sprach zuletzt bei einer Pressekonferenz von „glaubwürdigen Berichten“. Die „New York Times“ („NYT“) berichtete in diesem Zusammenhang von einer US-Warnung an insgesamt 14 mögliche, hauptsächlich afrikanische Abnehmerländer.

Die amerikanische Warnung untermauere zwar durchaus die ukrainischen Plünderungsvorwürfe, so die „NYT“ – da man zum einen von Hunger betroffene Länder vor dem Kauf von gestohlenen Getreide warnt, zum anderen diesen aber wohl kaum den Kauf von Lebensmitteln verbieten könne, stelle das den Westen aber vor ein Dilemma.

„Es gibt nichts mehr zu stehlen“

Laut „NYT“-Angaben kamen Russland und die Ukraine für rund 40 Prozent des Weizenbedarfs in Afrika auf, ein Großteil der Lieferungen sei nun ausgefallen. Dazu komme etwa am Horn vorn Afrika eine verheerende Dürre mit 17 Millionen Betroffenen. Angesichts von Notlagen wie dieser würden viele afrikanische Länder wohl nicht zögern, von Russland geliefertes Getreide zu kaufen, ganz gleich, woher es kommt, zitierte die Zeitung den Direktor des internationalen Forschungsinstituts für strategische Studien (HORN) in Kenia, Hassan Khannenje.

Man könne Afrikas Nahrungsmittelproblem durch eine Beendigung der Kämpfe, aber nicht durch geplündertes Getreide lösen, sagte dazu der stellvertretende Landwirtschaftsminister der Ukraine, Taras Wyssozki. Seinen Angaben zufolge habe Russland in den besetzten Teilen der ukrainischen Regionen Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk bereits einen Großteil der Getreidespeicher leergeräumt. „Es gibt nichts mehr zu stehlen“, sagte Wyssozki im „NYT“-Interview.

Auch in Mariupol geladene Frachter gesichtet

„Russland stiehlt schamlos ukrainisches Getreide“, sagte der ukrainische Botschafter in der türkischen Hauptstadt Ankara, Wasyl Bodnar. „Allein im Mai haben wir zehn Durchfahrten (durch den Bosporus, Anm.) registriert“, so Bodnar, der außer Frage stellte, dass wohl viele weitere solcher Exporte unentdeckt blieben.

Nach Angaben von Yöruk Isik vom Schiffsbeobachtungsnetzwerk Bosphorus Observer würden auch in den von Russland blockierten oder kontrollierten ukrainischen Schwarzmeer-Häfen wie Mariupol, Tschornomorsk und sogar Odessa beladene Getreidefrachter die Meerenge passieren. Durch den Bosporus werde das Getreide dann ins Mittelmeer nach Syrien verschifft, wo Russland einen Marinestützpunkt unterhält – und von dort weiter in den Libanon und nach Ägypten.

Die Europäische Union hat ein Embargo gegen russische Importe verhängt. Dennoch fahren Tanker unter griechischer oder maltesischer Flagge durch den Bosporus bis zu den russischen Häfen im Schwarzen Meer. Isir machte laut dpa auch alte türkische Schiffe aus, die „noch nie zuvor in diesem Gebiet gesehen wurden“ und plötzlich unter Billigflagge im russischen Noworossijsk auftauchten – „wahrscheinlich im Auftrag der russischen Regierung“.

Militärverwalter melden erste Weizenlieferung per Zug

Unterdessen meldete die von Russland unterstützte Militärverwaltung im besetzten Teil der Region Saporischschja auch einen ersten Weizentransport via Bahn. „Ich teile Ihnen mit Stolz und Freude mit, dass die ersten Eisenbahnwaggons, elf Waggons, mit Getreide aus dem Melitopoler Getreidespeicher in Richtung Krim gefahren sind“, sagte der Leiter der Militärverwaltung, Jewgenij Balizki, laut CNN gegenüber dem kremlnahen russischen TV-Moderator Wladimir Solowjow. Er hoffe, dass das Getreide seinen Weg in die Türkei und den Nahen Osten finden werde, so Balizki: Man könne davon ausgehen, „dass diese Lieferungen in naher Zukunft um das Hundertfache zunehmen werden“.