Filmszeme aus „Belle“
Polyfilm
„Belle“

Märchen für das Social-Media-Zeitalter

Der japanische Animationskünstler Mamoru Hosoda war schon für die Oscars nominiert, kürzlich wurde sein neuer Film „Belle“ in Cannes gefeiert. Darin erzählt er unterhaltsam und bildstark über das Aufwachsen im Social-Media-Zeitalter, den Wunsch akzeptiert zu werden und die Utopie einer Märchenwelt ohne gesellschaftliche Zwänge.

„Hier kannst du noch einmal von vorne beginnen“ – so lautet das zentrale Versprechen der umfassenden Social-Media-Umgebung „U“, die fünf Milliarden Nutzer begeistert. Anziehungspunkt ist sie vor allem für Teenager, denn diese Onlinewelt ist packender als Second-Life, hyperaktiver als TikTok und meinungsstärker als Twitter.

Was „U“ aber besonders macht: Dort bekommen alle Nutzerinnen und Nutzer einen Avatar („AS“ genannt), der ihre körperlichen und charakterlichen Eigenschaften verstärkt. Dadurch wird es zum idealen Hallraum für Einsame, Verlorene und zu wenig Wahrgenommene wie die 17-jährige Suzu aus der japanischen Provinz, die online sofort zum Popstar wird.

Gesehen werden in der Social-Media-Märchenwelt

Als Bell – und später von ihren vielen Fans zu Belle (französisch für die Schöne) geadelt – kann Suzu ausleben, was ihr in der Realität nicht gelingt: Seit dem Unfalltod ihrer Mutter traut sie sich nicht mehr zu singen, einst verband sie die Musik mit ihr. Was Belle aber tatsächlich populär macht, ist ihre Einfühlsamkeit, mit der sie allen das Gefühl gibt, nur für sie da zu sein. Jenseits der Onlinewelt kann die schüchterne Suzu ihre Qualitäten in den Hierarchiespielen ihrer Altersgenossen rund um Schönheit, erste Liebe und soziales Prestige nicht ausspielen. Gut, dass ihre Freundin Hiroka ein Computer-Ass ist und ihre Auftritte in „U“ managt.

Hosoda, der mit „Mirai“ (2018) bereits für den besten Animationsfilm bei den Oscars nominiert war, dreht mit seiner märchenhaften Social-Media-Welt in Form einer gigantischen Stadt, in der die Schwerkraft aufgehoben ist und die Avatare durch die Lüfte ziehen, die Verhältnisse um: Das Netz wird von ihm als Ort präsentiert, an dem das authentische Ich der Nutzerinnen hervortreten kann und die sozialen Zwänge der Realität abgeschüttelt werden können.

Filmszeme aus „Belle“
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Bilderbuchkarriere aus dem Jugendzimmer – Suzu und ihre Freundin Hiroka

Risse in der Utopie

Freilich bekommt diese Utopie – als solche kann man „U“ ohne Weiteres ausdeuten – recht rasch Risse. Die Erregung der digitalen Echokammern mit ihren Shitstorms, die die immer einsamere und tristere Lebenswelt Suzus beherrscht – in einer Szene wird erzählt, wie sie als kleines Kind mit den Social-Media-Kommentaren zum Unfall ihrer Mutter zurecht kommen musste –, herrscht natürlich auch in der Gegenwelt.

Filmszeme aus „Belle“
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Suzu als ihr Avatar „Belle“ in der digitalen Megacity von „U“

Außerdem verstärken die Avatare (das Character Design übernahm Jin Kim, der auch bei „Encanto“ und „Raya und der letzte Drache“ am Werk war) natürlich nicht nur das musikalische Talent – für den hinreißenden J-Pop Soundtrack wurde „Belle“ in Japan bereits ausgezeichnet –, sondern auch die dunkleren Anlagen der Nutzer. So taucht ein Avatar namens Biest (in der untertitelten Originalfassung firmiert er als Drache) auf, der seine inneren Verletzungen in große Kraft umwandeln kann und nicht nur ein Konzert von Belle stört, sondern auch zum verfolgten Faszinosum der Nutzerschaft von „U“ wird.

Die Anziehung zwischen Belle und Biest verwandelt Hosoda in eine eindeutige und augenzwinkernde Hommage an Disneys „Die Schöne und das Biest“ – wobei in „Belle“ das Märchen nur online passieren darf, und die eigentliche Welt der Jugendlichen wie so oft im Anime eine ruppige ist.

Onlinepolizei auf Abwegen

Zudem wird Biest von einer selbsternannten Superheldentruppe verfolgt, deren Anführer über eine magische Kraft verfügt: Er kann Avatare in ihre reale Gestalt verwandeln, die Nutzer also entblößen und beschämen. Auch dadurch zeigt die vermeintliche Utopie ihre dunkle Kehrseite: Die selbsternannte Polizei läuft ständig Gefahr, zur Prügelbande zu werden, die im Namen einer selbst behaupteten Gerechtigkeit unterdrückt.

Wie leichtfüßig „Belle“ als packendes und visuell eindrucksvolles Anime-Drama von Kindheit und Jugend im Social-Media-Zeitalter erzählt, ist beeindruckend. Die bedenklichen sozialen und kommerziellen Effekte werden nebenbei miterzählt. Im Zentrum steht aber die Faszination dafür, sich selbst in Gefühlen und Verhalten in unterschiedlichen Rollen ausprobieren zu können – auch wenn man gerade mit diesem Film besser versteht, dass dieses Ausprobieren nichts Utopisches hat, sondern immer auf die Realität zurückwirkt.