Durch Streumunition zerstörtes Glas in Charkiw
Reuters/Ivan Alvarado
Amnesty

Russland setzte in Charkiw Streumunition ein

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat am Montag schwere Vorwürfe gegen Russland erhoben. In der ukrainischen Stadt Charkiw sollen russische Truppen die verbotene Streumunition verwendet haben, unter anderem auf Spielplätzen.

Die Vorwürfe drehen sich um „unterschiedslosen Beschuss“, etwa eben durch weithin verbotene Streumunition und auch durch ungenau abgefeuerte Raketen. Damit hätten russische Truppen Hunderte Zivilpersonen getötet, so Amnesty am Montag. In ihrem Bericht dokumentiert die Menschenrechtsorganisation, wie die russische Armee seit Beginn der Invasion durch den unablässigen Beschuss von Wohngegenden für Tod und Zerstörung sorgte.

So habe man durch umfassende Recherche Beweise dafür gefunden, dass russische Truppen wiederholt Streumunition des Typs 9N210/9N235 sowie Streuminen eingesetzt hätten, so Amnesty. Beide Munitionstypen sind wegen ihrer „Unterschiedslosigkeit“ völkerrechtlich verboten.

Über 600 Zivilisten getötet

Der Leiter der medizinischen Abteilung der militärischen Regionalverwaltung in Charkiw sagte Amnesty International, dass in der Region Charkiw seit Ausbruch des Kriegs 606 Zivilpersonen getötet und 1.248 verletzt worden seien. Die meisten der von Amnesty International untersuchten Angriffe führten in einem großen Radius zu zahlreichen Todesfällen.

Durch Streumunition zerstörter Betonboden in Charkiw
Reuters/Ivan Alvarado
Ein Beschusskrater in Charkiw: Auch Wohngegenden wurden hier angegriffen

„Menschen wurden zu Hause und auf der Straße, auf Spielplätzen und auf Friedhöfen, beim Anstehen für Hilfslieferungen und beim Einkaufen von Nahrungsmitteln oder Medikamenten getötet“, erklärte Donatella Rovera, Amnesty-Expertin für Recherche in Krisengebieten.

„Der wiederholte Einsatz von weithin verbotener Streumunition ist schockierend und zeugt von absoluter Verachtung gegenüber dem Leben von Zivilpersonen. Die russischen Truppen, die für diese furchtbaren Angriffe verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen und die Betroffenen und ihre Angehörigen vollumfänglich entschädigt werden“, so Rovera weiter.

Amnesty sieht Kriegsverbrechen

Russland ist zwar weder dem Übereinkommen über Streumunition noch dem Antipersonenminen-Übereinkommen beigetreten, doch das humanitäre Völkerrecht verbietet sowohl willkürliche Angriffe als auch den Einsatz von Waffen, die ihrer Natur nach unterschiedslos sind.

Willkürliche Angriffe, die zu Toten und Verletzten in der Zivilbevölkerung führen oder zivile Objekte beschädigen, seien als Kriegsverbrechen zu betrachten, so die Forderung von Amnesty International.

Patienten mit Metallsplittern

Der aktuelle Amnesty-Bericht basiert auf den Dokumentationen der Ermittlungsteams aus dem April und Mai. Über einen Zeitraum von 14 Tagen hinweg untersuchten sie 41 Angriffe und sprachen mit Personen, u. a. Überlebenden, Augenzeugen, Familienangehörigen von Opfern sowie Ärzten, die Verletzte behandelten. Laut dem Bericht beschossen russische Truppen etwa am 15. April die Gegend um die Myru-Straße im Charkiwer Bezirk Industrialnyj mit Streumunition. Mindestens neun Zivilpersonen seien dabei getötet und mehr als 35 verletzt worden, darunter auch mehrere Kinder.

Ärzte der Stadtklinik in Charkiw zeigten Amnesty International Metallsplitter, die sie aus dem Körper ihrer Patienten entfernt hatten; einige davon konnten eindeutig Streumunition vom Typ 9N210/9N235 zugeordnet werden.

Beschuss von Spielplatz

Auch die 41-jährige Oxana Litwynjenko sei bei einem Spielplatzbesuch mit ihrem Mann Iwan und ihrer vierjährigen Tochter durch explodierende Streumunition schwer verletzt worden. Granatsplitter seien in ihren Rücken, ihre Brust und ihren Bauch eingedrungen und hätten ihre Lunge und ihr Rückgrat durchbohrt, so Amnesty. Mitarbeiter von Amnesty International fanden auf dem Spielplatz Metallteile und andere Bestandteile, die eindeutig von Streumunition des Typs 9N210/9N235 stammen. Zunächst sei unklar gewesen, ob sie jemals wieder sprechen oder laufen können werde, berichtete ihr Mann. Nach über einem Monat auf der Intensivstation habe sich der Zustand der 41-Jährigen mittlerweile aber etwas verbessert.