Mann mit bengalischer Fackel
Nicolas Wefers
Documenta

Gewagtes Konzept statt Kunstausstellung

Sie ist das bedeutendste Kunstfestival und findet nur alle fünf Jahre statt: die documenta im beschaulichen Kassel mitten im Herzen Deutschlands. Heuer hat das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa die Planung übernommen. Im Zentrum steht nicht die Ausstellung von Werken großer Namen, sondern das, was angesichts aktueller Herausforderungen die Welt retten soll: Kooperation. Ein gewagtes Konzept.

Die Mitglieder von Ruangrupa sind in Zeiten der indonesischen Suharto-Diktatur aufgewachsen. Die Macht ging von einem aus, die Wirtschaftspolitik war neoliberal organisiert, und Andersdenkende wurden verfolgt. 1998 starb Haji Mohamed Suharto. 2000 formierte sich das Künstlerkollektiv und trat an, in jedem einzelnen Detail das Gegenteil des Suharto-Kurses zu proklamieren. Von diesem Geist ist auch die 15. documenta durchweht.

Das Leitmotiv des Festivals sind die Werte und Ideen von „Lumbung“, dem indonesischen Begriff für einen gemeinschaftlich genutzten Reisstadel. In einem programmatischen Statement der documenta-Leitung heißt es: „Als künstlerisches und ökonomisches Modell fußt Lumbung auf Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung und verwirklicht sich in allen Bereichen der Zusammenarbeit und Ausstellungskonzeption.“

Menschen an einem Tisch auf einer Veranda
Saleh Husein
Kollaboratives Arbeiten als Konzept: Ruangrupa aus Indonesien

Radikales Kooperationsprinzip

Ruangrupa haben dieses Konzept radikal umgesetzt. Sie luden keine einzelnen Künstlerpersönlichkeiten ein, die ihre Werke präsentieren; es geht explizit nicht darum, dass sich das Publikum von einer Aura des Genies fesseln lässt. Das Publikum soll Einblick in Prozesse bekommen und vielleicht hier und dort sogar Teil von Prozessen werden. Ruangrupa haben Künstlerkollektive aus aller Welt eingeladen, die ihrerseits wieder Gruppen als Kooperationspartner dazuholen durften.

Gemeinsam mit lokalen Initiativen wurden Orte geschaffen, die weiterwirken sollen, weit über die traditionellen hundert Tage der documenta hinaus. Dazu gehören eine gemeinsam mit lokalen Skatern und Skaterinnen gebaute Halfpipe, eine Brücke aus recyceltem Material, die gemeinsam mit Schulkindern gebaut wurde, Projekte zur Belebung des in der Stadtplanung vernachlässigten Flusses Fulda wie schwimmende Gärten sowie ein Steg, der Flusspartys ermöglichen soll, dazu eine Pflanzaktion gemeinsam mit den lokalen Forstbetrieben.

Komposthaufen
Nicolas Wefers
Die Künstlergruppe La Intermundial Holobiente funktioniert einen Komposthaufen zum lebenden Buch um

In der Nähe des Gewächshauses findet sich in der Karlsaue auch ein Komposthaufen beziehungsweise ein Totholzplatz, der von den Landschaftsgärtnerinnen und -gärtner der Museumslandschaft Hessen-Kassel genutzt wird. In diesem „wilden“ Bereich, der nicht von Menschen gestaltet ist, hat La Intermundial Holobiente in einem Container einen multimedialen Lebensraum für ihre Publikation „The Book of the Ten Thousand Things“ geschaffen, mit Schaukästen, einem Screen und assoziativen Textfragmenten auf einer raumfüllenden Tafel.

Keine documenta für Kunsttouristen

Aber was bedeutet dieses Konzept für das Publikum? Man kann die documenta nicht besuchen wie eine Ausstellung. Klassische Kunst spielt nur hie und da in Form einzelner Installationen eine Rolle, etwa im Eingangsbereich der Documenta-Halle und vor dem Fridericianum, dem Zentrum der documenta, wo der rumänische Künstler Dan Perjovschi angesichts aktueller Krisen wie des Ukraine-Krieges Friedenssymbole und programmatische Sprüche zum Status der Welt an den Säulen des Eingangsportales angebracht hat.

Zeichnungen des rumänischen Künstlers Dan Perjovschi auf den schwarzen Säulen am Eingang vom Museum Fridericianum in Kassel
APA/dpa/Swen Pförtner
Dan Perjovschi gestaltete den Eingangsbereich des Fridericianums

Wer aber nur durchläuft, oder besser durchmarschiert, weil sich die Kunstorte der documenta auf die ganze Stadt erstrecken, wird das Wesentliche versäumen. Im Interview mit dem Kunstmagazin „monopol“ sagt Ruangrupa-Mitglied Farid Rakun: „Wenn Sie Tourist sind und nur ein paar Stunden haben, ist das okay. Aber ich muss auch sagen, dass das nicht das ist, wovon wir ausgehen. Es gibt die Chance, sich hier in Kassel tiefer mit künstlerischen Positionen auseinanderzusetzen. Man sollte also nicht unbedingt denken, dass man herumrennen und alles sehen muss.“

Freunde finden statt Kunst machen

Lieber, so Rakun, solle man sich schon vor dem Besuch dafür entscheiden, bei einzelnen Projekten tiefer einzutauchen. Besonders wichtig sei diesmal die Vermittlung an Ort und Stelle. Ein japanisches Kollektiv etwa zeigt mit seinem Kinocaravan an unterschiedlichen Orten Projektionen, hat eine künstlerisch gestaltete Kräutersauna mit an Bord, dessen Form an den Unglücksreaktor von Fukushima erinnert, und veranstaltet Partys mit Live-DJs. Im Kern geht es aber darum, Orte der Begegnung zu schaffen. Die Mission sei es, Freunde zu finden, so der japanische Takeshi Kuribayashi im Gespräch mit ORF.at: „Das Motto ‚Make friends, not art‘ ist ein Wert, den wir mit Ruangrupa teilen.“

Einen konkreten Plan, wie man mit dem Publikum interagieren werde, gebe es nicht, wurde schon im Vorfeld proklamiert: „Alles ist zufällig. Was passiert, ist kein Zufall, sondern eine Notwendigkeit. Was passiert, passiert. Es gibt keine Notwendigkeit für Führung oder Kontrolle.“ Ähnliches liest man allerorten von den Beteiligten dieser documenta. Ausführliche Berichte aus Kassel über Projekte wie die des japanischen Kollektivs werden auf ORF.at folgen.

Das Konzept scheinbarer Konzeptlosigkeit

Der Ansatz des „Schauen wir, was passiert“ ist kein geringes Wagnis. Immerhin waren bei der letzten documenta vor fünf Jahren über 800.000 Menschen. Diesmal könnten es noch deutlich mehr werden. Eine Woche vor documenta-Start waren, wie Henriette Sölter, Sprecherin des Festivals, gegenüber der „Zeit“ angibt, bereits mehr als doppelt so viele Tickets verkauft worden wie im selben Zeitraum vor fünf Jahren. Der post- bzw. interimspandemische Kulturhunger scheint groß.

Eine Million Menschen loszuschicken, ohne genau zu wissen, was passiert, könnte ein Himmelfahrtskommando sein. Aber Ruangrupa wissen, was sie tun. Seit ihrer Gründung haben sie international zahlreiche Festivals kuratiert, auch in Europa, und ihr Konzept der scheinbaren Konzeptlosigkeit immer weiter ausgereift. Das betrifft den Umgang mit dem Publikum genauso wie die Nachhaltigkeit der Projekte, wenn die Festivals beendet sind.

Menschen pflanzen Bäume
Nicolas Wefers
Reza Afisina von Ruangrupa, Künstlerische Leitung der documenta fifteen, und Michael Gerst, Leiter des Landesbetriebs HessenForst, pflanzen Eichen

Debatte über Antisemitismus-Vorwürfe

Dass der Andrang auf die Tickets heuer so groß sein würde, war unterdessen nicht immer klar. Denn diese documenta muss sich mit einer erbittert geführten Debatte auseinandersetzen. Ruangrupa hatten das palästinensische Kollektiv „The Question of Funding“ aus Ramallah eingeladen. Die Gruppe kooperiert mit dem Chalil-al-Sakakini-Kulturzentrum. Deren Gründer Sakakini wiederum war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts arabischer Nationalist, Sympathisant des Nationalsozialismus und trat für Gewalt gegen die israelische Staatsgründung ein.

Zudem stünden auch andere Teilnehmende an dieser documenta der Initiative BDS nahe, die für einen Boykott Israels eintrete. Ein Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus ging deshalb auf die Barrikaden. Eine breite Debatte in den Medien wurde losgetreten. Zuletzt meldete sich der ehemalige deutsche Finanzminister und früherer Kasseler Bürgermeister Hans Eichel mit einem Kommentar in der „Süddeutschen Zeitung“ zu Wort. Eichel hat seit der allerersten documenta 1955 kein einziges Mal gefehlt und wird auch diesmal wieder dabei sein.

„We need to talk“

„We need to talk“, unterstrich er und zitierte damit den Titel einer Gesprächsreihe der dcocumenta. Keineswegs sei das Festival gegen Kritik sakrosankt. Aber er verwies auch auf die Klarstellung der documenta-Leitung, die jeden Vorwurf des Antisemitismus von sich weist. Und sonst heiße es abwarten, was dann tatsächlich zu sehen sei: „Diese Debatte wird nun nicht im Vorfeld, sondern erst während der Schau in genauer Kenntnis der Ausstellung geführt werden können.“ Immerhin stünden ganz andere Themen im Zentrum dieser documenta.