Lastwagen an der Grenze von Nordirland
APA/AFP/Paul Faith
Nordirland-Protokoll

London will Brexit-Deal mit EU aufschnüren

Großbritannien hat am Montagabend offiziell die umstrittenen Pläne zur Änderung des Nordirland-Protokolls vorgestellt. Damit will London einen Teil der Brexit-Abmachungen mit der EU einseitig ändern. Die britische Regierung spricht von „trivialen“ Anpassungen, die EU stellte umgehend eine „angemessene Reaktion“ in Aussicht. In Irland sieht man den Bruch von internationalem Recht, skeptisch zeigt sich auch Washington.

Auch mehr als zwei Jahre nach dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU bleibt der Brexit weiterhin Thema: Einmal mehr geht es um die britische Provinz Nordirland. Der nun vorgelegte Gesetzesentwurf sei notwendig, um Stabilität und den Frieden in der früheren Unruheregion zu sichern, sagte Außenministerin Liz Truss im Unterhaus in London.

Konkret sieht das Nordirland-Protokoll bisher besondere Zollregeln vor, um die sensible Grenze zwischen der britischen Provinz und dem EU-Staat Irland offen zu halten. Durch die Übereinkunft ist aber de facto eine Zollgrenze in der Irischen See entstanden, die Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs trennt. Das führte unter anderem zu Lieferproblemen und auch insgesamt zu großem Unmut in Großbritannien.

EU kritisiert britische Regierung

Laut Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic nehme Brüssel die Entscheidung der britischen Regierung „mit großer Sorge“ zur Kenntnis. „Unser Ziel wird immer sein, die Umsetzung des Protokolls sicherzustellen. Unsere Reaktion auf einseitige Maßnahmen des Vereinigten Königreichs wird dieses Ziel widerspiegeln und verhältnismäßig sein“, so Sefcovic weiter. „In einem ersten Schritt“ werde die Fortsetzung eines im März 2021 gegen die britische Regierung eingeleiteten rechtlichen Verfahrens erwogen. „Wir hatten dieses Verfahren im September 2021 im Geiste der konstruktiven Zusammenarbeit ausgesetzt, um Raum für die Suche nach gemeinsamen Lösungen zu schaffen. Das einseitige Vorgehen des Vereinigten Königreichs verstößt direkt gegen diesen Geist“, sagte der Kommissionsvizepräsident.

Zahlreiche Erleichterungen von London angestrebt

Das im Rahmen des Brexits von London akzeptierte Nordirland-Protokoll soll nun einseitig geändert werden. Unter anderem sollen die Warenkontrollen zum Schutz des EU-Binnenmarkts gestoppt und durch eine freiwillige Regelung ersetzt werden. Zudem soll die Rolle des Europäischen Gerichtshofs drastisch beschränkt werden. London will sich auch freie Hand bei Regelungen zur Mehrwertsteuer geben. Nach Ansicht vieler Fachleute wäre das ein klarer Bruch internationalen Rechts. Die Regierung in London bestreitet das jedoch.

Traktor an der Grenze von Nordirland
Reuters/Clodagh Kilcoyne
Die Grenze zwischen Irland und Nordirland war neuerlich Streitpunkt

Es handle sich um eine Reihe „relativ trivialer Änderungen“, sagte Großbritanniens Premierminister Boris Johnson am Montag im Vorfeld. Falls die EU als Reaktion auf britische Gesetzespläne einen Handelskrieg begänne, wäre das eine „grobe Überreaktion“, so Johnson. Der nun eingebrachte Gesetzesvorschlag liefere eine „vernünftige, praktische Lösung für die Probleme in Nordirland“ und verstoße nicht gegen internationales Recht, sagte unterdessen Truss.

London will weiter Gespräche mit EU

Gleichzeitig lud die Außenministerin die EU an den Verhandlungstisch: „Wir sind weiterhin offen für Gespräche mit der EU.“ Fortschritte könne es aber nur geben, wenn Brüssel Änderungen an Vereinbarungen akzeptiere. Die EU hatte praktische Vereinfachungen bei den Kontrollen zugestanden, eine grundsätzliche Überarbeitung des Protokolls jedoch abgelehnt. Einseitige Änderungen des Texts sieht Brüssel als Verstoß gegen internationales Recht.

Liz Truss und Maros Sefcovic
Reuters/Johanna Geron
Großbritanniens Außenministerin Truss stellte die Pläne vor, der EU-Kommissionsvize Sefcovic kritsierte diese scharf

Entsprechend deutlich fiel die Reaktion am Montagabend aus: Brüssel nehme die Entscheidung der britischen Regierung „mit großer Sorge“ zur Kenntnis, so Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic. „Unser Ziel wird immer sein, die Umsetzung des Protokolls sicherzustellen. Unsere Reaktion auf einseitige Maßnahmen des Vereinigten Königreichs wird dieses Ziel widerspiegeln und verhältnismäßig sein“, so Sefcovic weiter.

EU stellt Gegenmaßnahmen in Aussicht

„In einem ersten Schritt“ werde die Fortsetzung eines im März 2021 gegen die britische Regierung eingeleiteten rechtlichen Verfahrens erwogen. „Wir hatten dieses Verfahren im September 2021 im Geiste der konstruktiven Zusammenarbeit ausgesetzt, um Raum für die Suche nach gemeinsamen Lösungen zu schaffen. Das einseitige Vorgehen des Vereinigten Königreichs verstößt direkt gegen diesen Geist“, so der Kommissionsvizepräsident weiter.

Der irische Außenminister Simon Coveney
Reuters/Johanna Geron
Der irische Außenminister Coveney kritisierte London scharf

Irlands Premierminister Micheal Martin bezeichnete den Schritt als „neuen Tiefpunkt“, es sei „sehr bedauerlich für ein Land wie Großbritannien, ein internationales Abkommen zu brechen“. Der irische Außenminister Simon Coveney hatte davor nach einem Telefongespräch mit Truss durch seinen Sprecher ausrichten lassen, dass die von London geplante Gesetzesvorlage internationales Recht breche und ein besonderer Tiefpunkt der britischen Herangehensweise an den Brexit sei. „Dieses Gesetz ist weit davon entfernt, Probleme zu lösen, sondern wird eine ganze Reihe neuer Unsicherheiten auslösen und Schaden anrichten.“

Auch USA skeptisch

Im Hinblick auf die historisch sensible Situation von Nordirland und Irland äußerten sich nach Vorstellung der Pläne auch die USA: Sie fordern Großbritannien und die EU auf, zu Gesprächen zurückzukehren, so ein Sprecher des Weißen Hauses am Montag. „Die Priorität der USA bleibt es, die Errungenschaften des Belfaster Abkommens und des Karfreitagsabkommens zu schützen und Frieden, Stabilität und Wohlstand für die Menschen in Nordirland zu bewahren“, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters den Sprecher.

Das Thema hatte zuletzt auch neue Brisanz bekommen, weil bei der Parlamentswahl in Nordirland erstmals die Partei Sinn Fein stärkste Kraft wurde. Sie verfolgt das Ziel einer Abspaltung von Großbritannien und einer Vereinigung mit Irland. Sinn Fein erhob schwere Vorwürfe gegen London: „Es ist skrupellos, es ist schändlich und es dient in keiner Weise dem Interesse der Menschen hier“, sagte die designierte nordirische Regierungschefin und Sinn-Fein-Vizepräsidentin Michelle O’Neill.

Kritik selbst aus Belfast

Gegenwind für Johnson kam auch aus Nordirlands Hauptstadt Belfast. In einem von 52 der 90 Abgeordneten im nordirischen Regionalparlament unterzeichneten Brief hieß es, der Gesetzesentwurf stehe im Widerspruch zum ausdrücklichen Wunsch von Unternehmen und Menschen in Nordirland.

Lobende Worte fand hingegen Jeffrey Donaldson, der Chef der protestantisch-unionistischen Partei DUP, die in Nordirland aus Protest gegen das Protokoll die Bildung einer Einheitsregierung blockiert. Was die Regierung in London vorgelegt habe, sei eine Lösung, und das sei es, was man derzeit brauche, so Donaldson. Am Vormittag hatte der DUP-Abgeordnete Sammy Wilson noch abwartend geklungen: Er sagte der BBC, man müsse erst abwarten, welcher Text letztendlich beschlossen würde – muss der Gesetzesvorschlag ja erst durch das britische Unter- und Oberhaus.

Starker Gegenwind im Parlament erwartet

Dort ist ohnehin noch mit längeren Diskussionen zu rechnen – wohl auch in den eigenen Reihen des zuletzt stark in die Kritik geratenen Premiers Johnson. Die „Financial Times“ berichtete über eine interne Mitteilung, die unter den Abgeordneten von Johnsons Torys zirkulierte. Demzufolge würden die Pläne nicht nur gegen internationales Recht verstoßen – der Beschluss könnte durch das Oberhaus, das sich aus Adeligen und Geistlichen zusammensetzt, lange hinausgezögert werden, so die Befürchtung. Zuerst soll das Gesetz noch vor der Sommerpause zur Abstimmung im Unterhaus kommen, schrieb der „Guardian“ und bezog sich auf Regierungskreise.