Protest gegen das Nordirland-Protokoll in Belfast (Nordirland)
Reuters/Clodagh Kilcoyne
Brüssel vs. London

Johnson reißt alte Brexit-Wunden auf

„Get Brexit Done“, den Brexit durchbringen und abhaken, war schon 2019 das Wahlmotto des britischen Premiers Boris Johnson und seiner konservativen Torys. Doch auch zwei Jahre nach dem offiziellen Abschied Großbritanniens von der EU ist immer noch kein Ende in Sicht, im Gegenteil: Mit der geplanten Änderung des heiklen Nordirland-Protokolls riss Johnson alte Wunden auf – und könnte damit einen Handelskrieg mit Brüssel lostreten.

Die Nordirland-Frage war schon während der Brexit-Verhandlungen der heikelste Verhandlungsgegenstand – und größter Streitpunkt zwischen Großbritannien und der EU. In unzähligen Gesprächsrunden verständigten sich London und Brüssel letztlich auf eine Lösung, mit der beide Seiten leben konnten – das Nordirland-Protokoll war einer der grundlegenden Pfeiler für Johnsons Versprechen, den Brexit zu erledigen.

Doch mit der nunmehrigen Ankündigung Johnsons und seiner Außenministerin Liz Truss, dieses Paket einseitig wieder aufschnüren zu wollen, werden umgehend Erinnerungen an die zähen Brexit-Verhandlungen geweckt – und an das daraus resultierende schlechte Gesprächsklima zwischen London und Brüssel. Dieses ist nun einmal mehr ganz offensichtlich vergiftet, wie erste Reaktionen der EU noch am Montag zeigten.

Der britische Premierminister Boris Johnson in einer Kabinettssitzung
Reuters/Alberto Pezzali
Der britische Premier Johnson will das mit der EU ausgehandelte Nordirland-Protokoll aushebeln

„Große Sorge“ und „fundamentaler Vertrauensbruch“

„Mit großer Sorge“ nehme man den Vorstoß Großbritanniens zur Kenntnis, sagte EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic und stellte gleichzeitig Gegenmaßnahmen in Aussicht. Scharfe Töne kamen auch aus den EU-Staaten: Als „fundamentalen Vertrauensbruch“ bezeichnete der irische Premier Micheal Martin das Vorgehen der britischen Regierung, der deutsche Kanzler Olaf Scholz wies gleich auf „den ganzen Instrumentenkasten“, den die EU zur Verfügung habe, hin.

Der Gesetzesentwurf habe dazu geführt, dass „die Regierung in London einmal mehr die Beziehungen zwischen EU und Großbritannien belastet hat“, sagt auch Emily Fitzpatrick vom Brüsseler Thinktank European Policy Center (EPC) gegenüber ORF.at. Damit habe London „das Vertrauen zwischen den Parteien untergraben und eine gemeinsame Lösung für die wahren Probleme bei der Umsetzung des Nordirland-Protokolls unwahrscheinlich gemacht“, so die Expertin.

Londons Schritt könnte Vorbildwirkung haben

Für die EU ist das Nordirland-Protokoll Teil der Vereinbarung zum Brexit und damit internationales Recht – das eingehalten werden muss. Großbritannien wiederum sieht nur „triviale“ Änderungen, wie es gestern bei der Präsentation des Gesetzesentwurfs hieß, und versteht die große Aufregung nicht. „Alles, was wir tun, ist zu versuchen, Dinge zu vereinfachen und Handelsbarrieren zwischen Großbritannien und Nordirland zu entfernen“, sagte etwa der britische Premier.

Für Brüssel geht es nun vor allem um die Frage, wie auf dieses Vorgehen Londons reagiert wird. Fitzpatrick verweist auch auf die Vorbildwirkung, die Großbritannien haben könnte – die EU müsse abwägen, welchen „Effekt diese Handlungen auf andere Länder“ habe, die sich „weniger um die auf internationalen Regeln basierende Ordnung kümmern“, so die Expertin. Derartige Fragen würden die Mitgliedsländer nun beschäftigen, wenn weitere Schritte in Betracht gezogen werden.

Was diese weiteren Schritte sein können, wurde bereits skizziert, von Brüssel wird in Betracht gezogen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen London wiederzubeleben. Auch Teile des Handelsabkommen mit London könnten aufgekündigt werden, schrieb etwa die dpa.

Handelskrieg nicht im „eigentlichen Sinn“

Das Eskalationspotenzial ist jedenfalls da, in vielen Medien wurde gar über einen möglichen Handelskrieg zwischen den an sich Verbündeten spekuliert. Fitzpatrick sagt, dass sie einen Handelskrieg im „eigentlichen Sinn“ für unwahrscheinlich hält. Die Möglichkeit von Vergeltungsmaßnahmen durch die EU sei jedoch „nicht ausgeschlossen“. Ob das noch zuletzt geäußerte Argument, dass aufgrund des Ukraine-Krieges die EU vor Maßnahmen gegen London zurückschrecken könnte, immer noch greift, ist unklar.

Die britische Außenministerin Liz Truss und der Vize-Präsident der EU-Kommission Maros Sefcovic
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
Die Stimmung zwischen der britischen Außenministerin Truss und EU-Kommissionsvize Sefcovic ist nun wohl nicht mehr so amikal

Heftiger Gegenwind im eigenen Land

Doch nicht nur am anderen Ende des Ärmelkanals wird sich der ohnehin angeschlagene britische Premier Johnson auf Gegenwind einstellen müssen. Nicht nur, dass sich auch die USA – auf die Johnson ebenfalls angewiesen ist – im Hinblick auf den sensiblen Friedensprozess in Irland skeptisch äußerten. Kritik gibt es auch innerhalb der eigenen Grenzen.

Das fängt in Belfast an: Dort äußerte sich die Mehrheit der Abgeordneten im nordirischen Regionalparlament gegen den Gesetzesentwurf, der im Widerspruch zu Wünschen von Firmen und Menschen in der Region stünde. Die probritischen Unionisten der DUP blockieren seit Wochen wegen des Protokolls die Bildung einer Einheitsregierung mit der stimmenstärksten Partei Sinn Fein. Johnson wollte mit dem Vorstoß auch die Blockade dort lösen – zwar fiel die Reaktion der DUP positiv aus, im Vorfeld hörte man aber auch von einem Abgeordneten, dass man erst auf das vom Parlament abgestimmte Ergebnis warten wolle. Und auch Schottland kündigte am Dienstag neue Pläne für ein Unabhängigkeitsreferendum – notfalls auf eigene Faust – an.

Parlament als große Hürde

Doch gerade im Parlament wird es für Johnson wohl noch schwierig. Widerstand gab es im Vorfeld nämlich auch aus den eigenen Reihen: In Johnsons Tory-Partei ist der Gesetzesentwurf mehr als umstritten, interne Mails, die im Vorfeld an die Öffentlichkeit gelangten, kritisierten das Umgehen des Nordirland-Protokolls scharf. Mehrere Gruppen innerhalb der Torys wollten schon im Vorfeld gegen den Entwurf stimmen.

Befürchtet wird auch, dass das Gesetz nicht nur im Unter-, sondern auch im britischen Oberhaus, das aus Geistlichen und Adeligen besteht, blockiert werden könnte. Zwar ist die Bedeutung des Oberhauses an sich relativ gering, es kann aber Gesetze prinzipiell um bis zu ein Jahr aufschieben. Ob das Gesetz damit überhaupt beide Parlamentskammern je passiert, ist nicht abzusehen. Für den britischen Premier wäre das wohl ein weiterer schwerer Schlag.

Riskanter Kurswechsel für angeschlagenen Premier

Denn Johnson, der seit der „Partygate“-Affäre parteiintern angezählt ist, wollte zweifellos mit dem Gesetzesentwurf einen anderen Kurs einschlagen, nachdem er in den Monaten zuvor vor allem mit Feiern während des Lockdowns in den Medien für Schlagzeilen gesorgt hatte. Doch der einseitige Abschied von den gemeinsam mit der EU vereinbarten Regeln könnte auf vielen Ebenen für Johnson zum Bumerang werden. Das könnte, nur kurz nach dem nur knapp gewonnen Misstrauensvotum gegen ihn, seine Position erneut gefährden.