Waffenübungen von Zivilisten in Taiwan
Reuters/Ann Wang
„Stachelschwein“

Taiwans Frage der Selbstverteidigung

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine bangt Taiwan vor einer Invasion Chinas. Die Volksrepublik könnte sich Russland zum „Vorbild“ nehmen und eine ähnliche Attacke planen. Mit der steigenden Bedrohungslage stellt sich auf der Insel die Frage, ob und wie man sich gegen Invasoren verteidigen kann.

Der Krieg in der Ukraine dürfte viele Personen in Taiwan wachgerüttelt haben, schreibt die „New York Times“ („NYT“) in einer ausführlichen Analyse der militärischen Schlagkraft in Taiwan. Eine wachsende Zahl der Einwohner und Einwohnerinnen bereite sich in Simulationsübungen auf einen möglichen Konflikt mit dem großen Nachbarn vor. Denn eine gut ausgebildete Zivilbevölkerung könnte dabei die „Speerspitze“ der Verteidigung sein, mutmaßt eine Nichtregierungsorganisation, die sich auf den Zivilschutz in Taiwan spezialisiert.

Angelehnt ist der Gedanke am ukrainischen Widerstand gegen Russland. Doch davon ist der Inselstaat nach Expertenmeinung noch weit entfernt – auch rechtlich gibt es laut „The Diplomat“ Zweifel, ob eigene zivile Einheiten möglich sind. Die Herausforderung liegt aber auch woanders: Jahrelang setzte man aufgrund der chinesischen Bedrohungslage auf den Kauf und die Entwicklung von teurer Luft- und Seeabwehr. Die Rekrutierung von Soldaten und Soldatinnen wurde hingegen vernachlässigt.

Fachleute gehen davon aus, dass eine chinesische Invasion in Taiwan komplexer wäre als jene Russlands in der Ukraine – allein schon wegen der Tatsache, dass Taiwan eine Insel ist. Aber ein erfolgreicher Angriff könne nie ausgeschlossen werden, heißt es. US-Militärstrategen empfehlen der taiwanesischen Armee deshalb schon seit Jahren, auf die „Stachelschweinstrategie“ zu setzen: einigeln und Vorbereitungen auf einen langen Abwehrkampf treffen. Dafür müsste eben auch die Reserve besser ausgebildet werden.

Waffenübungen von Zivilisten in Taiwan
Reuters/Ann Wang
In Taipeh sind Workshops, in denen Zivilisten mit Waffen trainiert werden, seit Beginn des Ukraine-Krieges ausgebucht

Ungemütlich und wehrhaft

Ganz neu ist die Strategie nicht. William Murray, Professor am U.S. Naval War College in Rhode Island, hatte 2008 festgehalten, dass Taiwan eine offensive Verteidigung gegen China verfolge. Die Insel würde aber besser mit der „Stachelschweinstrategie“ fahren, schrieb der Experte und meinte damit die Widerstandsfähigkeit der Armee. Eine Invasion müsse dem Angreifer abschreckend aufwendig erscheinen. Sollte es zu einer Attacke kommen, müsse der Kampf lange dauern, um die Chance einer US-Intervention zu erhöhen.

Mit einer schnellen Invasion könnte China Fakten schaffen. Dauert der Angriff wegen des wehrhaften Stachelschweins aber länger, würden Verbündete Zeit erhalten, um ihre nächsten Schritte genau zu planen – geht es auch darum, nicht schnell, sondern nachhaltig zu sein. Diese Strategie hat nach Ansicht von Militärfachleuten auch der Ukraine gegen Russland geholfen. Der russische Präsident Wladimir Putin wollte das Land nämlich so rasch wie möglich einnehmen. Doch der Widerstand der ukrainischen Armee dauert seit über 110 Tagen an.

„Die Idee ist es, so unangenehm zu werden, dass der Feind es sich zweimal überlegt, ob er einen Angriff startet“, wird ein ehemaliger taiwanesischer Generalstabschef in der „NYT“ zitiert. Dass Taiwan deshalb bereits mobile Waffen anschafft, wird von einem Teil der Militärführung kritisch gesehen. Um China auf sichtbare Weise die Stirn zu bieten, seien kleinere Waffen nicht nützlich. Lediglich Langstreckenraketen, die das Festland treffen könnten, könnten Peking abschrecken, so die Kritiker. Dennoch bereiten sich immer mehr zivile Truppen auf eine mögliche Invasion vor, wie die „NYT“ berichtet.

Soldaten bei einer Militärübung in Taiwan
Reuters/Tyrone Siu
In dieser Übung wird simuliert, dass China einen Angriff auf die Insel startet

China drohte mit Krieg

Grund dafür dürften auch die jüngsten Drohgebärden zwischen den USA und China sein. Beim Shangri-La-Dialog in Singapur betonte der chinesische Verteidigungsminister Wei Fenghe, dass sein Land „bis zum Ende“ gegen eine Unabhängigkeit Taiwans kämpfen werde. „Wir werden um jeden Preis kämpfen und wir werden bis zum Ende kämpfen“, sagte Wei. China habe keine andere Wahl. „Diejenigen, die eine Unabhängigkeit Taiwans anstreben, um China zu spalten, werden definitiv kein gutes Ende nehmen“, fügte der Minister hinzu.

Am Freitag hatte Wei bei einem Treffen mit US-Verteidigungsminister Lloyd Austin für den Fall einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans bereits mit Krieg gedroht. „Falls es irgendjemand wagt, Taiwan von China zu trennen, wird die chinesische Armee definitiv nicht zögern – koste es, was es wolle –, einen Krieg zu beginnen“, sagte Wei. Die USA übten hingegen scharfe Kritik an den Worten Chinas – zuletzt hatten die Vereinigten Staaten erneut Waffen auf die Insel geliefert.

Das gefiel wiederum China nicht. Denn Peking sieht Taiwan, das sich 1949 abgespalten hatte, als abtrünnige Provinz, die wieder mit dem Festland vereinigt werden soll – notfalls mit militärischer Gewalt. China isoliert Taiwan auch politisch. Dessen Regierung betont stets, sie wolle Frieden, werde die Insel aber im Falle eines Angriffs verteidigen. China hält Taiwan für das wichtigste und heikelste Thema in der ohnehin angespannten Beziehung zu den Vereinigten Staaten.

Chinesischer Flugzeugträger
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In den vergangenen Monaten wurden die Drohgebärden zwischen den Beteiligten schärfer (im Bild: chinesischer Flugzeugträger)

Biden: China „flirtet mit der Gefahr“

Gegenüber der BBC meinte der China-Experte William Choong, dass man die derzeitige Rhetorik nicht verharmlosen sollte, aber aus Sicht Chinas wäre eine Invasion auch für das eigene Land gefährlich. „Die chinesische Wirtschaft ist wesentlich stärker mit der Weltwirtschaft verflochten als die russische“, sagte Choong mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, der wirtschaftlich und politisch erhebliche Nachteile für den Aggressor Russland nach sich zieht.

US-Verteidigungsminister Austin hatte in seiner Rede vor einer Woche betont, dass die USA weder die Unabhängigkeit Taiwans unterstützen noch „einen neuen Kalten Krieg“ wollten. Vor drei Wochen machte US-Präsident Joe Biden allerdings klar, was er von den Drohgebärden Chinas in Richtung Taiwan halte: Die Volksrepublik „flirtet mit der Gefahr“. Im Falle eines Angriffs aus Peking würden die USA den Inselstaat auch militärisch verteidigen. „Das ist eine Verpflichtung, die wir eingegangen sind.“

Kurz darauf meldete sich bereits ein Berater des Präsidenten zu Wort und betonte, dass die USA nicht von ihrer Position abweichen werden. Biden hätte nämlich Waffenlieferungen gemeint, nicht die Entsendung von Bodentruppen, berichtete der „Guardian“. Politikwissenschaftler Ian Chong von der National University of Singapore meinte gegenüber BBC, dass keine Seite die Situation eskalieren lassen wird. „Aber eine Nichteskalation bedeutet nicht, dass wir eine bessere Position erreichen werden. Wir sitzen also alle eine Weile in dieser Spirale fest.“