Ein Wahlplakat des französischen Präsidenten Emmanuel Macron überklebt mit einem Bild des Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Melenchon
APA/AFP/Joel Saget
Frankreich wählt

Kollision der Weltanschauungen

Auch wenn weder Präsident Emmanuel Macron noch sein Kontrahent Jean-Luc Melenchon auf dem Wahlzettel stehen: Bei der zweiten Runde der Parlamentswahl ist alles auf die beiden gegensätzlichen Bündnisanführer zugespitzt. Das Duell lautet Mitte gegen links, beide Seiten werfen einander vor, Frankreich ins Chaos zu stürzen. Den größten Gegner teilen sie sich aber: die Resignation der Wählerschaft.

„Das Chaos, das ist Macron“, so Melenchon im Gespräch mit der Zeitung „Le Parisien“. Das 70-jährige linke Urgestein setzt bei der zweiten Wahlrunde einmal mehr zu einem hohen Posten an. Dreimal kandidierte er schon für die Präsidentschaft, nun will er Premier werden. Damit das passiert, muss aber noch viel Wasser die Seine hinunterfließen.

Das von Melenchon angeführte Linksbündnis NUPES, das neben seiner eigenen Partei La France Insoumise auch die Reste der Sozialisten sowie die Grünen und die Kommunisten umfasst, erlangte bei der ersten Runde vergangenen Sonntag laut Innenministerium 25,66 Prozent und liegt damit hauchdünn hinter Macrons Bündnis Ensemble mit 25,75 Prozent. Die Zeitung „Le Monde“, die die Zuordnung der Kandidaten eigenständig vornahm, sprach dem Linksbündnis sogar einen knappen Vorsprung zu, was NUPES zum Vorwurf der Wahlmanipulation des Ministeriums veranlasste.

Parlamentswahl in Frankreich

Am Sonntag entscheidet sich in Frankreich, ob Präsident Emmanuel Macron seine absolute Mehrheit im Parlament behält. In Frankreich gilt das Mehrheitswahlrecht, wodurch größere Bündnisse überproportional begünstigt werden. Dennoch könnte Macrons Bündnis die absolute Mehrheit verlieren.

Denkspiele a la francaise

Ungeachtet der Zahlenspiele wird es, glaubt man den Prognosen angesichts des komplizierten Wahlsystems, nicht so einfach werden für Melenchons Linke. Macrons Ensemble wird wohl deutlich mehr Sitze erlangen, NUPES könnte aber die stärkste Oppositionskraft in der Nationalversammlung werden. Damit würde das Bündnis der Präsidentenpartei in den kommenden Jahren schwere Steine in den Weg legen können.

Dazu gibt es drei Szenarien: Erringt Macrons Ensemble die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung (mindestens 289 der 577 Mandate) kann Macron mit freier Hand weiterregieren und seine Vorhaben durch das Parlament bringen. Macrons Bündnis könnte auch die Absolute verfehlen, dennoch stärkste Kraft werden. Die Verfassung sieht in dem Fall keinen Zwang zur Koalitionsbildung vor. Dann müsste Macron wohl anderen Parteien ihre Zustimmung zu bestimmten Vorhaben immer wieder mit Zugeständnissen oder Posten abkaufen, ein lähmender Zustand.

Der französische Präsident Emmanuel Macron an einem Rednerpult vor der Präsidentenmaschine
AP/Gonzalo Fuentes
Präsident Macron warnt vor wechselnden Mehrheiten. Die erste Wahlrunde war ein herber Dämpfer für sein Bündnis Ensemble.

Noch schlimmer wäre für den Präsidenten aber eine „Cohabitation“, falls NUPES die Umfragen Lügen straft und Platz eins erreicht. Macron müsste dann einen Premier oder eine Premierministerin ernennen, und Melenchon erhob darauf längst Ansprüche.

Der Präsident ist aber nicht unbedingt gezwungen, Melenchon zu auf den Premierssessel zu hieven, es muss eine Person sein, die die Unterstützung der Nationalversammlung hat. Würde Macron in diesem Fall Melenchon absagen, wäre freilich der nächste Machtkampf schon programmiert.

„Cohabitation“ gefürchtet

Die „Cohabitation“, also die Teilung der Macht zwischen dem Präsidenten und der Parlamentsmehrheit, ist in Frankreich ein äußerst ungeliebter und auch seltener Zustand, dreimal gab es das bisher erst. Die Chancen für dieses Szenario stehen aufgrund der Prognosen schlecht, dennoch betont Macron wahltaktisch, wie groß der Schaden wäre. Frankreich würde ohne solide Mehrheit in inszenierten Schaukämpfen untergehen, so die Warnung.

Melenchon schaffte – ungeachtet des Wahlausgangs – in jedem Fall einen Coup. Vor wenigen Wochen hätte wohl niemand damit gerechnet, dass Macron nicht gegen die extreme Rechte in den Ring steigen muss, sondern gegen die extreme Linke. Melenchon einte zumindest vorerst das zersplitterte linke Spektrum unter einem gemeinsamen Schirm und katapultierte sie auf Augenhöhe mit Ensemble.

Eine Grafik zeigt das Ergebnis der ersten Runde der Parlamentwahl in Frankreich
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Französisches Innenministerium

Wie lange die Einigkeit vorherrscht, ist aber auch für Melenchon die große Unbekannte. Er selbst vertrat in der Vergangenheit allzu polarisierende Ansichten, vor allem was die EU und Russland betrifft. Als inakzeptabel bezeichnete er 2014 die Politik von USA und EU, die Ukraine stärker an den Westen zu binden. Die Proteste des Euromaidan nach der geplatzten Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU nannte er einen Putsch. Auch die derzeitige Argumentation von Russlands Präsident Wladimir Putin, unter den Proeuropäern in der Ukraine sei ein Teil rechtsextrem, hat auch Melenchon schon angeführt. Den Angriffskrieg Russlands verurteilte er. Dennoch müsse Frankreich aus der NATO austreten, so Melenchon.

Geldsorgen dominantes Thema

Macron hingegen vertritt das andere Ende der EU-Frage. Als Präsident inszenierte er sich als Fahnenträger eines starken Frankreich in Europa, im Wahlkampf setzte er auf die staatsmännische Pose als großer Europäer. Auch bezüglich der Ukraine trennen ihn Welten von Melenchon. Gerade noch in Kiew bei Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Gast, trieb Macron die Annäherung des Landes an den Westen voran.

Der französische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Melenchon
Reuters/Sarah Meyssonnier
Melenchon schaffte mit seinem Bündnis NUPES einen Coup. Doch die Linke ist chronisch zersplittert.

Melenchon aber weiß, dass den Franzosen in Zeiten von hoher Inflation andere Themen wichtiger sind. Das Thema Kaufkraft dominiert die Parlamentswahlen, und hier hat Macron, der ehemalige Elitehochschüler und Investmentbanker, das weit schlechtere Image. Er gilt als abgehoben und unzugänglich für die Probleme der Bürgerinnen und Bürger. Melenchon hingegen ist durch und durch antielitär eingestellt, in seiner Studentenzeit wollte der 68er eine Revolution anstreben, er führte in seiner Schule einen Aufstand an. Die Sozialisten verließ Melenchon 2008, weil sie ihm „zu rechts“ waren.

Sorge vor neuen „Gelbwesten“

Nun hat er bei den Wahlthemen die besseren Karten. Macrons umstrittenes Vorhaben einer Pensionsreform ist unbeliebt, Melenchon will statt einer Erhöhung des Antrittsalters eine Senkung.

Frankreichs Parlament

Das Parlament setzt sich aus zwei Kammern zusammen: Nationalversammlung (Unterhaus) und Senat (Oberhaus). Die Nationalversammlung beschließt die Gesetze und kann per Misstrauensvotum die Regierung stürzen.

Eine weitere Forderung der Linken ist die Erhöhung des Mindestlohns auf 1.500 Euro und Preisdeckelungen. Finanziert werden soll das alles mit der die Wiedereinführung einer Reichensteuer – 2017 von Macron abgeschafft.

Macrons bisher schärfste innenpolitische Krise war die „Gelbwesten-Bewegung“, die sich wegen erhöhten Spritpreisen formiert hatte. Ein solches Szenario dräut nun wieder, Frankreich gehört laut einer aktuellen europaweiten Umfrage unter über 8.000 Teilnehmenden zu jenen Ländern, in denen die Menschen am meisten über die Lebenshaltungskosten besorgt sind.

Wahlbeteiligung alarmierend niedrig

Sie sind es auch, die ihre politische Enttäuschung mitunter nicht mehr an den Wahlurnen ausdrücken. Die Wahlbeteiligung war schon in der ersten Wahlrunde alarmierend niedrig. Mit 47,51 Prozent formten die Nichtwähler vergangenen Sonntag den größten Block. Macrons Ensemble hat noch am ehesten Chancen, Stimmen von anderen Parteien abzuziehen, etwa die der konservativen Republikaner. NUPES hingegen schielt vor allem auf die Nichtwähler, Junge und Menschen mit niedrigem Einkommen. Sie zum Wählen zu bewegen, dürfte schwieriger werden.