Medikamente
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Psychische Belastung

Medikamentenkonsum stieg in Pandemie

Aufgrund der starken psychischen Belastung während der Coronavirus-Pandemie sind laut einer Studie im Auftrag des Anton Proksch Instituts die Medikamenteneinnahmen in Österreich in die Höhe geschnellt. Jede bzw. jeder Vierte gab an, durch die Epidemie psychisch beeinträchtigt zu sein. Vor allem bereits belastete Menschen haben vermehrt zu Schmerz-, Beruhigungs-, Schlaf- und Aufputschmitteln gegriffen – und dabei vor allem junge Menschen. Auch die WHO schlägt in einem neuen Bericht Alarm.

Mehr als ein Viertel der Befragten (26 Prozent) fühlte sich laut der Umfrage psychisch belastet. 19 Prozent gaben an, körperlich belastet zu sein. Die wirtschaftliche bzw. finanzielle Belastung (22 Prozent) befand sich ebenfalls auf hohem Niveau.

Generell gaben Frauen eine höhere psychische Belastung an als Männer, wie die vom Institut für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität Wien mit dem Titel „Doping im Alltag“ durchgeführte Studie zeigt. Die Expertinnen und Experten wollten den Einfluss der durch die Pandemie hervorgerufenen psychischen Belastungsfaktoren auf den Medikamentenkonsum beleuchten.

Psychische Belastete nehmen viel mehr Medikamente

„Betrachtet man jene Personengruppe, die angegeben hat, sich durch die Covid-19-Pandemie psychisch belastet zu fühlen, so zeigt sich eine signifikant stärkere Zunahme des Schmerzmittelgebrauchs. Psychisch Belastete nehmen etwa doppelt so häufig Schmerzmittel ein als jene, die sich selbst nicht als psychisch belastet erleben“, sagte Wolfgang Preinsperger, Ärztlicher Direktor am Anton Proksch Institut. „Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich bei Beruhigungs- bzw. Schlafmitteln. Aufputschmittel werden von psychisch Belasteten sogar etwa drei- bis viermal häufiger eingenommen als von Unbelasteten.“

Die Studie zeigte außerdem: Neben der eigentlichen Wirkung der jeweiligen Substanzklasse spielen indirekte Wirkungen als Einnahmemotiv eine große Rolle. So werden beispielsweise Schmerzmittel auch zur Selbstbehandlung depressiver Symptome eingesetzt.

Aufputsch- und Beruhigungsmittel

Aufputschende Substanzen werden seit Beginn der Pandemie von vier Prozent der Befragten eingenommen. Bei 38 Prozent der Aufputschmittel einnehmenden Personen kam es zu einer Zunahme, bei 24 Prozent zu einer Abnahme des Konsums. Die Einnahme aufputschender Substanzen kommt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 30 Jahre nahezu doppelt so häufig vor wie bei älteren Personen (neun Prozent).

16 Prozent der Befragten gaben an, während der Pandemie mindestens einmal Benzodiazepine, also Medikamente, die als Schlaf- oder Beruhigungsmittel eingesetzt werden, eingenommen zu haben. Hier ist ein deutliches Plus des Konsums zu verzeichnen: Bei 48 Prozent von Personen, die Beruhigungsmittel einnehmen, kam es zu einer Zunahme, nur bei sieben Prozent dagegen zu einer Abnahme. Am häufigsten ist die Einnahme unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 30 Jahre.

Besonders auffällig ist, dass Personen mit oft wechselnden Arbeitszeiten fast doppelt so häufig angaben, Benzodiazepine einzunehmen, als jene mit regelmäßigen (65 Prozent gegenüber 38 Prozent). Es sei davon auszugehen, dass in diesen Fällen Schlafstörungen mit Benzodiazepinen „behandelt“ werden, so die Experten. Der kurzfristigen Linderung der Schlafprobleme stünden hier jedoch langfristig negative Auswirkungen wie Schlafstörungen und Abhängigkeitsentwicklung gegenüber.

Jüngere nehmen mehr Schmerzmittel

Knapp die Hälfte (45 Prozent) der Befragten gab an, mindestens einmal seit Pandemiebeginn Schmerzmittel eingenommen zu haben. Während der Pandemie scheint sich das Konsumverhalten zwar nicht verändert zu haben, allerdings zeigt sich, dass jüngere Personen deutlich häufiger eine Schmerzmitteleinnahme angeben als ältere.

Knapp ein Drittel der Schmerzmittelkonsumentinnen und -konsumenten nimmt diese mehrmals die Woche ein, Migrantinnen und Migranten der ersten Generation allerdings etwa doppelt so häufig wie Personen ohne Migrationshintergrund bzw. in Österreich geborene Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation. Elf Prozent der Österreicherinnen und Österreicher nehmen mehr Schmerzmittel ein als ärztlich verordnet. Bei Migrantinnen und Migranten der ersten Generation steigt dieser Wert auf 33 Prozent.

Alltagsdoping mit Kaffee, Tabak und Alkohol

Aber auch Alltagsdoping, was den obligatorischen Morgenkaffee, die Zigarette vor der Arbeit, den Espresso in der Nachmittagspause oder auch das Gläschen Wein abends zum Entspannen auf der Couch umfasst, hat zugenommen. Nahezu jede Österreicherin bzw. jeder Österreicher konsumiert koffeinhaltige Getränke und Lebensmittel. 2019 haben drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung zumindest einmal Alkohol zu sich genommen. Knapp die Hälfte der Befragten nimmt Nahrungsergänzungsmittel ein. Ein Viertel der Österreicherinnen und Österreicher raucht zumindest gelegentlich.

Unklare Daten bei Medikamentenabhängigkeit

Geschätzte 150.000 Österreicherinnen und Österreicher sind arzneimittelabhängig. Aufgrund der vermutlich sehr hohen Dunkelziffer liegt die tatsächliche Zahl aber wesentlich höher, Schätzungen gehen von bis zu 300.000 Personen aus. „Eine genaue Angabe ist deshalb schwer möglich, da die Medikamentenabhängigkeit wie keine andere Suchterkrankung im Verborgenen stattfindet und die Betroffenen sehr lange sozial unauffällig bleiben“, so Preinsperger.

Während die wissenschaftliche Literatur zu Alkohol- oder Drogenabhängigkeit sehr umfangreich sei, lägen zur Medikamentenabhängigkeit bisher kaum Forschungsergebnisse vor – eine Datenlücke, zu deren Schließung die vorliegende Studie beitragen soll. Im ersten Teil der Studie erfolgte die Befragung der repräsentativen Stichprobe von 1.000 Personen telefonisch durch das Gallup Institut Österreich. In einer Zusatzerhebung im Oktober 2021 wurden dann per Onlinebefragung speziell die pandemiebedingten Konsum- und Alltagsdopingtrends beleuchtet. Veröffentlicht wurde die Studie noch nicht.

WHO: Ein Viertel mehr Depressionen

Von einem starken Anstieg einiger psychischer Krankheiten berichtete auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Freitag bei der Vorlage ihres neuen Berichts über mentale Gesundheit. Die Fälle von Depressionen und Angststörungen seien weltweit allein im ersten Pandemiejahr um 25 Prozent gestiegen.

Fast eine Milliarde Menschen weltweit lebt nach WHO-Angaben mit einer psychischen Krankheit. Diese Zahl bezieht sich noch auf 2019, vor der Coronavirus-Pandemie. Fast jeder achte Mensch war betroffen. Menschen mit schweren psychischen Störungen sterben zehn bis 20 Jahre früher als die allgemeine Bevölkerung, hieß es in dem Bericht.

Mentale Gesundheit lange vernachlässigt

„Psychische Gesundheit geht mit körperlicher Gesundheit Hand in Hand“, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. „Investitionen in die psychische Gesundheit sind Investitionen in ein besseres Leben und eine bessere Zukunft für alle.“ Die mentale Gesundheit sei Jahrzehnte vernachlässigt worden, hieß es in dem Bericht. Alle Länder müssten mehr tun, um den Betroffenen zu helfen.

Einige der wichtigsten Ursachen für Depressionen seien sexueller Missbrauch, Mobbing oder Schikane im Kindesalter. Dem müsse aktiv entgegengewirkt werden: durch soziale Dienste, Unterstützung für Familien mit Problemen und Programme für soziales und emotionales Lernen in Schulen. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, Kriege, die Klimakrise und Gesundheitsbedrohungen – wie eine Pandemie – seien Risiken, die zu psychischen Krankheiten beitragen.

Ärmere am stärksten gefährdet

Die WHO definiert eine psychische Krankheit als bedeutsame Störung der Wahrnehmung, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person, die in der Regel mit Stress oder Beeinträchtigungen in wichtigen Funktionsbereichen verbunden ist.

In vielen Ländern würden Betroffene immer noch ausgegrenzt, berichtete die WHO. Es sei wichtig, Menschen mit psychischen Krankheiten in alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens einzubeziehen, um dem entgegenzuwirken.

In allen Ländern sei das Risiko psychischer Krankheiten bei den ärmsten Menschen am größten, die gleichzeitig am seltensten behandelt würden. Selbst in den entwickelten Ländern würde nur ein Drittel der depressiven Menschen von Fachkräften behandelt.