Der ukrainische ESC-Sieger Kalush Orchestra
AP/Luca Bruno
Großbritannien im Gespräch

Song Contest 2023 nicht in der Ukraine

Der nächste Eurovision Song Contest (ESC) findet wegen des russischen Angriffskriegs nicht beim diesjährigen Sieger Ukraine statt. Das teilte die Europäische Rundfunkunion (EBU) am Freitag in Genf mit. Stattdessen wolle man Gespräche mit der BBC führen, ob der Bewerb 2023 in Großbritannien ausgerichtet werden könne.

Die ukrainische Band Kalush Orchestra hatte Mitte Mai mit dem Song „Stefania“ den Song Contest im italienischen Turin gewonnen. Vor allem bei den Zuschauerwertungen aus ganz Europa hatte die Band klar vorne gelegen. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine war die Veranstaltung so politisch wie lange nicht mehr gewesen, der so klare Sieg wurde auch als Signal der Solidarität vom Publikum in Dutzenden Ländern verstanden. Russland war wegen des Kriegs vom Bewerb ausgeschlossen gewesen.

Viele kriegsgebeutelte Ukrainer hatten den Sieg begeistert gefeiert. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte im Nachrichtenkanal Telegram mitgeteilt: „Unser Mut beeindruckt die Welt, unsere Musik erobert Europa! Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision! Zum dritten Mal in unserer Geschichte.“

Sicherheitsgarantien nicht gewährleistet

Doch daraus wird nun nichts. Angesichts des anhaltenden Kriegs seit dem russischen Einmarsch in das diesjährige Gewinnerland hat sich die EBU nach eigenen Angaben die Zeit genommen, um mit dem ukrainischen Rundfunksender UA:PBC und weiteren Akteuren zu überprüfen, wie machbar die Durchführung des Bewerbs 2023 in der Ukraine ist. Dabei ging es auch um Sicherheitsaspekte. Mit tiefem Bedauern sei man zu dem Schluss gekommen, dass der Sender die Sicherheits- und Betriebsgarantien unter den aktuellen Umständen nicht gewährleisten könne, erklärte die Rundfunkunion. Aufgrund des hohen Planungs- und Vorbereitungsaufwands wurde die Entscheidung schon jetzt getroffen und nicht erst im Herbst.

„Die Sicherheit und Garantie, die ein Fernsehsender bieten muss, um den Eurovision Song Contest nach den Regeln des ESC auszurichten, zu organisieren und zu produzieren, kann UA:PBC nicht gewährleisten“, hieß es dazu auf Twitter über den ukrainischen Fernsehsender. „Die EBU möchte sich bei UA:PBC für die offenherzige Kooperation und das Engagement bei der Suche nach Szenarien in den vergangenen Wochen seit dem Sieg des Kalush Orchestras am 14. Mai in Turin bedanken“, hieß es weiter: „Wir teilen ihre Trauer und Enttäuschung, dass der Contest im kommenden Jahr nicht in der Ukraine stattfinden kann.“

Britisches Comeback

Damit könnte nun Großbritannien als Zweitplatzierter von Turin als Gastgeber nachrücken. Der Sieg der Ukraine 2022 solle sich aber in den Shows widerspiegeln. Diskussionen mit der BBC über eine mögliche Ausrichtung des Wettbewerbs im Vereinigten Königreich werde man jetzt einleiten, teilte die EBU mit. Schon während des Song Contest war spekuliert worden, dass das bestplatzierte Land der „Big Five“, der größten EBU-Einzahler, die auch direkt im Finale starten dürfen, für die Ukraine einspringen könnte.

Und das war in Turin eben Großbritannien: Sänger Sam Ryder schaffte mit „Space Man“ den zweiten Platz und beendete damit eine lange Durststrecke seines Landes beim Song Contest. Er fachte damit auch fast wieder eine kleine Song-Contest-Euphorie in seinem Land an: Auch bei den Jubiläumsfeiern von Queen Elizabeth II. lieferte er einen umjubelten Auftritt ab.

Sam Ryder aus Großbritannien
EBU/Corinne Cumming
Sam Ryder holte für die Briten nach langer Zeit wieder eine Topplatzierung

Schottland bietet sich an

„Wir würden alles daransetzen, um sicherzustellen, dass die reiche Kultur, das Erbe und die Kreativität der Ukraine sich im überbordenden Ausmaße widerspiegelt“, versicherte ein Sprecher von Premierminister Boris Johnson.

Indes warf sogleich Johnsons innerbritische Konkurrentin Nicola Sturgeon ihren respektive den Hut Schottlands in den Ring. Sie könne sich einen perfekten Veranstaltungsort am Ufer des Flusses Clyde vorstellen, schrieb die schottische Regierungschefin nach Bekanntwerden der EBU-Entscheidung auf Twitter und spielte damit auf die schottische Großstadt Glasgow an, die an den Gestaden des Clyde liegt. Kurz darauf relativierte Sturgeon diese Festlegung sogleich sicherheitshalber: „In der Tat könnte es mehrere mögliche Veranstaltungsorte in Schottland geben – lassen Sie uns darüber diskutieren!“

Verzicht selten

Beim Song Contest ist es Tradition, dass das Land des Gewinners in der Regel im nächsten Jahr den Wettbewerb ausrichtet. Das ist aber keine Zwangsverpflichtung. Vereinzelt haben schon in der Vergangenheit Sieger – etwa wegen der hohen Kosten des Spektakels – auf ihr Anrecht verzichtet und den Wettstreit an andere Teilnehmer weitergereicht. So sprang die britische BBC bereits im Jahr 1974 einmal ein.

Damals hatte Vorjahressieger Luxemburg verzichtet, weil dort schon 1973 ein Grand Prix stattgefunden hatte. Das Fest von 1974 in Brighton ging mit dem Auftritt von Abba mit „Waterloo“ dann in die Popgeschichte ein. Es gibt sogar ein Teilnehmerland, das den Regeln zufolge niemals den Bewerb austragen darf, auch wenn es gewinnt, das ist Dauergast Australien. Sollte „Down Under“ je gewinnen, wird automatisch ein anderes Land ausgewählt.

Unregelmäßigkeiten haben Nachspiel

Vor dem Bewerb im kommenden Jahr stehen aber möglicherweise noch weitere Unannehmlichkeiten bevor: Die EBU hatte beim zweiten Halbfinale Unregelmäßigkeiten beim Jury-Voting von sechs Ländern festgestellt: Aserbaidschan, Georgien, Montenegro, Polen, Rumänien und San Marino hatten sich gegenseitig sehr hohe Punkte zukommen lassen. „Eine Unregelmäßigkeit der Jury-Abstimmungsmuster solchen Ausmaßes ist beispiellos“, schrieb die EBU Ende Mai. Die betroffenen Länder wiesen Absprachen teils scharf zurück.

Welche Konsequenzen nun drohen, ist unklar. Rumänien drohte bereits im nächsten Jahr nicht teilzunehmen. Einfluss auf das Ergebnis hatten die Unregelmäßigkeiten nicht. Von den sechs Nationen kamen nur Rumänien, Aserbaidschan und Polen ins Finale und hatten mit den Spitzenplätzen nicht zu tun. Sieger Ukraine startete wie Österreich im ersten Halbfinale und holte den Sieg im Finale vor allem dank der Publikumsstimmen, die Jury-Wertungen hatten dabei weniger Einfluss.