Alexandru Bulucz
ORF
Erster Lesetag

Bulucz über Migrationstrauma als Favorit

Die 46. Tage der deutschsprachigen Literatur starteten am Donnerstag in den ersten von drei Lesetagen. Jury, Autorinnen und Autoren waren das erste Mal seit drei Jahren wieder in Klagenfurt versammelt. Alexandru Bulucz ging als klarer Favorit hervor.

Nach zwei Jahren der Videopräsenz kam am ersten Lesetag endlich wieder das vielbeschworene Klagenfurt-Feeling auf – besonders im Garten vor dem ORF-Landesstudio, wo die Autoren und Autorinnen erstmals getrennt von der Jury ihre Texte lasen.

Umringt von Zuschauern, Journalistinnen und Verlagsvertretern könnte die entspannte Lesesituation jenen Autorinnen und Autoren zugutekommen, die vor allzu direkter Konfrontation mit der Jury zurückschrecken, die Geschichte des Bewerbs hält ja legendäre Verrisse bereit, von denen etwa Marcel Reich-Ranickis Fundamentalkritik an Jörg Fausers Lesung bis heute nachhallt.

Lesebühne im Garten
ORF/Petra Haas
Stimmung im Garten: Die Lesenden und der Literaturbetrieb dürfen ins Freie

Verschwörung für das Gute?

Viele Dinge bleiben wie gewohnt: Der erste Leseplatz, besetzt dieses Mal von Hannes Stein, erwies sich auch dieses Jahr als ein undankbarer, auch weil die Jury sich zu Beginn noch finden musste.

Der in New York lebende deutsche Autor Stein bezeichnet sich als „Spezialist für Weltuntergänge“, seine Romane spielen stets nach Katastrophen. Ähnlich das Setting in seinem Bachmannpreis-Text „Die königliche Republik“, mit dem er den Lesetag eröffnete: Hier liefert Stein ein dichtes Geflecht von gegenwärtigen Themen, die er in eine kurze Krimisituation legt.

Lesung Hannes Stein

Hannes Stein liest auf Einladung von Vea Kaiser „Die königliche Republik“. Der in New York lebende Deutsche erzählt die Geschichte eines ehemaligen Professors, der glaubt, Geheimbotschaften von der polnisch-litauischen Union zu bekommen.

Ein schwarzer und jüdischer Historiker wurde vor 50 Jahren wegen vermeintlicher Propaganda von der Universität gefeuert. Als Spezialist für osteuropäische Geschichte hat er ein Werk über die polnisch-litauische Adelsrepublik vorgelegt.

In der Gegenwart wähnt sich der Erzähler als Empfänger von Geheimbotschaften der im Untergrund agierenden polnisch-litauischen Union, die unbemerkt für die gute Sache kämpft und der Menschheit etwa Penicillin gebracht hat: eine feinsinnige Verbindung von Verschwörungstheorien, Hinweise auf kriegstreibende Propagandafloskeln und Cancel-Culture.

Gewohnte Rollenverteilung in der Jury

Erstmals vergeben die Mitglieder der Jury nach den Lesungen und Diskussion einen bis neun Punkte an die Kandidatinnen und Kandidaten. Delius ortete in Steins Text eine Unentschiedenheit zwischen magischem Realismus und Thesenroman. Juryvorsitzende Wilke sah eine einsame Figur, die einer verwirrten Welt den Spiegel vorhält. Kastberger ortete Traditionslinien in der österreichischen Literatur. Die einladende Kaiser freute sich, dass von den restlichen „ganz viel verstanden wurde“.

Vorsitzende Insa Wilke, Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke, Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler: Die Jury spielt die schon gewohnten Rollen

Die Jury fand nach aber schon im ersten Abgleich in der Diskussion zu Stein und zum weiten Text von Eva Sichelschmidt in die Rollenverteilung des letzten Jahres zurück: Kastberger gibt am liebsten den deutschen Kolleginnen und Kollegen Nachhilfe in österreichischer Kulturgeschichte, Kaiser tritt emphatisch für fabulierendes Erzählen ein, Tingler torpediert das Textverständnis der Autoren und der Restjury, Schwens-Harrant und Wiederstein geben sich als ausgleichend, und Delius und Wilke wägen sorgsam Stärken und Schwächen ab.

Lesung Eva Sichelschmidt

Eva Sichelschmidt liest auf Einladung von Mara Delius den Text „Der Körper meine Großmutter“. Es geht um Abschied und Loslassen anlässlich des bevorstehenden Todes. Die Enkelin als Ich-Erzählerin lässt die Jahre mit der Großmutter an sich vorbeiziehen und schildert den Verfall einer geliebten Person.

Nicht zuletzt ist der Bachmannpreis ein unterhaltsames Sozialexperiment, bei dem es um die immer intensiver werdende Auseinandersetzung hauptberuflicher Erklärbären geht – mehr dazu in bachmannpreis.ORF.at.

Während Sichelschmidts (Deutschland) „Der Körper meiner Großmutter“, der in Form eines Prosagedichts das Leben und Sterben einer 103-Jährigen aus Sicht ihrer Enkelin umkreiste, vor allem formal beeindruckte und der letzte Text von Andreas Moster (Deutschland) über die Alleinerziehendennöte eines Leistungssportlers aufgrund seiner Klischeehaftigkeit mehrheitlich durchfiel, waren es vor allen zwei Texte, die für Diskussionen sorgten.

Lesung Andreas Moster

Andreas Moster liest auf Einladung von Vea Kaiser den Text „Der Silberriese“. Eine Geschichte vom Werden eines Vaters, der von der Mutter seines Kindes verlassen wird. Er lernt, mit dem Baby umzugehen und es mit seiner Sportlerkarriere zu vereinbarten – das erweist sich als unmöglich, er entscheidet sich für das Kind.

Selbstbespiegelung oder Metaschmäh?

Eine beliebte Kampfvokabel der aktuellen Literaturkritik lautet „Selbstbespiegelungsprosa“, am Donnerstag nahm sie Tingler schon in der Diskussion zu Stein in den Mund. Der von Tingler eingeladene Engler (D/A) präsentierte mit „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“ eine Innenansicht eines wenig erfolgreichen Schauspielers, der versucht, sich selbst zum Erfolgreichen zu optimieren, gleichzeitig aber von Ressentiment strotzt.

Lesung Leon Engler

Leon Engler lebt in Bayern und Wien und las auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten“. Ein erfolgloser Schauspieler ist auf dem Weg zu einem Fotoshooting und findet im Zug zu sich selbst.

Regelmäßiger Gegenstand der Jurydiskussionen ist die Frage, ob ein Text nicht viel konzeptioneller sei, als sich beim ersten Lesen erschließe. Englers Text war eine große Einladung zu solchen Überlegungen: kalte, zynische Nabelschau eines wohlstandsverwahrlosten, toxischen jungen Mannes mit eingesprenkelten Anglizismen oder eine Reflexionsaufgabe für die Jury?

Für Wilke war es ein strukturell „unglaublich simpler Text“, der aber funktioniere und bei genauem Lesen von Zitaten – von der religiösen Sphäre bis Ingeborg Bachmann – gespickt sei und sie beeindruckt habe. Für Kaiser lag die Qualität darin, dass er „unendlich deprimierend“ sei und auf Tendenzen hinweise – wenngleich darin „Beschreibungsarmut“ herrsche. Für Tingler treffe Engler eine weitverbreitete Zerrissenheit. Die im Text eingearbeitete Juryaufgabe funktionierte.

Innere Kälte nach Gasknappheit

Alexander Bulucz (ROM/D), der auf Einladung von Wilke seinen Text „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“ las, war der eindeutige Favorit des Tages.

Auch bei Bulucz ging es wie bei Engler um einen jungen, männlichen und bitteren Selbsterzähler, der aber um die Migrationserfahrung aus seinem – eben „einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“ – befindlichen Geburtsland kreist.

Neben Erinnerungen an Gasknappheit im real existierenden Sozialismus transportiert der Text die Geschichte eines Traumas, das, im Unterschied zu Engler, eine Begründung für die abwertende Haltung des Erzählers erahnen lässt: „Seit der Katastrophe, die ihn zu einem Konsequenzenfürchtigen, einem Gefühlsinvaliden, einem entgeisterten Heimatunfähigen und was sonst noch mutieren ließ, hatte er Kreise um sich gezogen. Von dort aus nahm er drei Menschentypen wahr: Passanten, Tangenten, Sekanten.“

Lesung Alexandru Bulucz

Alexandru Bulucz las auf Einladung von Insa Wilke den Text „Einige Landesgrenzen östlich von hier“ – Erinnerungen an Rumänien und Leben im Exil.

Auch in diesem Text konnte man, mit etwas gutem Willen, versteckte Bachmann-Zitate ausfindig machen: „Ärmlich brennt das Licht der Lupinen./Dein Blick spurt im Nebel:/die auf Widerruf gestundete Zeit/wird sichtbar am Horizont“ („Die gestundete Zeit“) könnte durchaus als Motto über diesem Text stehen. Das zeigte sich durch fast ungeteilten Zuspruch der Jury. Kaiser lobte die mäandernden Gedanken des Erzählers, die durch die konsequente Sprache als Motor einer Figur, die in Bewegung bleiben muss, umgesetzt wurde.

Kastberger zeigte sich erfreut, dass die vielzitierte Madelaine Marcel Prousts hier als Gänseschmalz erscheinen konnte. Einzig Tingler empfand die „Ausschließlichkeit der inneren Handlung“ ein erzählökonomisches Problem und fand in der Geschichte einen „feinen Hauch von Konventionalität“.