Boot auf einem Fluss in Kaliningrad
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Russland vs. NATO

Exklave Kaliningrad als neuer Brennpunkt

Als Folge der russischen Invasion könnte nun ein weiterer, potenziell gefährlicher, Konflikt entstehen: Litauen verbietet unter Verweis auf EU-Sanktionen teils russische Warenlieferungen per Zug in die baltische Exklave Kaliningrad. Russland reagiert wütend. Das Gefährliche daran: Eine Eskalation könnte im schlimmsten Fall zu einer bisher strikt vermiedenen direkten Konfrontation Russlands und der NATO führen.

Das EU- und NATO-Mitglied Litauen hat am Wochenende Beschränkungen für den Güterverkehr von Russland via Litauen in die Exklave Kaliningrad in Kraft gesetzt und beruft sich dabei auf die Umsetzung der EU-Sanktionen gegen Russland. Moskau reagierte empört und sprach umgehend von einer „Blockade“ und „illegalen“ Maßnahmen. Der nationale Sicherheitsrat Russlands kündigte am Dienstag Gegenmaßnahmen an.

Die Exklave Kaliningrad um das ehemalige Königsberg liegt zwischen den beiden EU- und NATO-Staaten Litauen und Polen. Sie ist nur etwa 350 Kilometer von Warschau und 500 Kilometer von Berlin, aber mehr als 1.000 Kilometer von Moskau entfernt. In der Exklave hat Russland seine Ostsee-Flotte stationiert.

Grafik zu Kaliningrad
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: dpa

Außerdem sind dort Iskander-Raketensysteme stationiert. Dieses fahrzeuggebundene System kann sowohl ballistische Kurzstreckenraketen als auch Marschflugkörper abfeuern – unklar ist bisher, ob sich Nuklearsprengköpfe in der Exklave befinden. Im Mai, als im Westen die Angst vor einer möglicherweise gestiegenen Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, hielt Russland in Kaliningrad Übungen – inklusive Iskander-Raketensystemen – ab.

Warnung vor und Ruf nach Landkorridor

Bereits kurz nach der russischen Invasion in die Ukraine gab es im Westen Spekulationen, Russland könnte im Fall eines raschen Erfolgs als Nächstes versuchen, eine Landverbindung zur Ostsee-Exklave zu schaffen. In Talkshows des russischen Staatsfernsehens erhoben Teilnehmer in den vergangenen Wochen mehrfach die Forderung nach der Schaffung eines „Korridors“ zwischen Kernrussland und der Ostsee-Exklave Kaliningrad. Das würde allerdings eine direkte Auseinandersetzung mit zwei NATO-Staaten – Litauen und Lettland – bedeuten.

Eine andere, in baltischen Staaten auch genannte Alternative eines russischen Angriffs wäre die „Suwalki-Spalte“ – eine knapp 100 Kilometer breite Ost-West-Linie zwischen Kaliningrad und Belarus. Hier könnte Russland von beiden Seiten gleichzeitig vorstoßen, so die vom früheren estnischen Präsidenten Toomas Hendrik Ilves gegenüber der Nachrichtensite Politico geäußerte Befürchtung. In diesem Fall wären effektiv die baltischen Staaten damit vom Rest der EU und der NATO abgeschnitten. Dafür müsste Russland freilich Litauen und Polen, also zwei NATO-Staaten, angreifen.

Der Vizevorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Dimitri Medwedew, hatte bereits im April gewarnt, im Fall eines NATO-Beitritts von Schweden und Finnland werde die Region nicht „atombombenfrei“ bleiben können. Er deutete damit an, dass Russland entweder bereits in Kaliningrad befindliche Atomsprengköpfe öffentlich machen oder solche dorthin bringen könnte.

EU setzt auf Beruhigung

Die EU versucht zu beruhigen. Man werde nach russischer Kritik an Beschränkungen des Bahntransits eine Überprüfung von Leitlinien zu den Sanktionen vornehmen, so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Zugleich appellierte die Kommission an Moskau, sich „eskalierender Schritte und Rhetorik“ zu enthalten.

Ringen um diplomatische Lösung

Markus Ederer, EU-Botschafter in Moskau, wurde in das russische Außenministerium einbestellt, um die Transitblockade Litauens für bestimmte Waren nach Kaliningrad zu erklären. Dabei rief er die russische Regierung nach seiner Einbestellung dazu auf, den Streit diplomatisch zu lösen.

„Diese Entscheidung ist wirklich beispiellos und stellt eine Verletzung von allem dar“, sagte freilich bereits am Montag Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Bereits die Entscheidung der EU, überhaupt Sanktionen gegen Russland zu verhängen, sei illegal. Er sprach von einer „mehr als ernsten Situation“.

Der Chef des russischen Nationalen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, warnte Litauen: Die russischen Gegenmaßnahmen würden „schwerwiegende negative Folgen für die Bevölkerung in Litauen haben“.

Borrell verteidigt Litauen

Borrell betonte freilich, Litauen habe keinerlei unilaterale Maßnahmen erlassen, sondern handle auf Grundlage von Leitlinien der EU-Kommission zur Umsetzung von Sanktionen. Anschuldigungen gegen das Land seien „falsch“ und „reine Propaganda“. Borrell betonte zudem, dass der Transit von Personen und nicht sanktionierten Gütern weiter laufe.

Litauen hat seit Samstag den Bahntransit von Waren über sein Territorium nach Kaliningrad verboten, die auf westlichen Sanktionslisten stehen. Laut dem Chef der Gebietsverwaltung in Kaliningrad, Anton Alichanow, betrifft das 40 bis 50 Prozent aller Transitgüter, etwa Baumaterialien, Metalle und Luxusgüter.

Moskau forderte Vilnius dazu auf, die Restriktionen „unverzüglich“ aufzuheben. Anderenfalls werde Russland „Maßnahmen zum Schutz seiner nationalen Interessen treffen“. Durch die EU-Sanktionen wurde Kaliningrad weiter isoliert. Russische Flugzeuge müssen seither einen Umweg über die Baltische See nehmen.

Lange und reiche Geschichte

Die gesamte Region hat neben großartigen Landschaften – etwa den Sanddünen an der Kuhrischen Nehrung – eine reiche und wechselhafte politische und kulturelle Geschichte zu bieten. Mitte des 13. Jahrhunderts eroberte der Deutsche Orden die Region und gründete Königsberg. Die Stadt wurde 1525 zum Hauptsitz des Herzogtums Preußen und war bis 1918 eine der drei Residenzstädte der preußischen Monarchie. Im Zweiten Weltkrieg lange Zeit aufgrund der abgelegenen Lage von Kriegshandlungen relativ verschont, wurde es in den letzten Monaten des Kriegs weitgehend zerstört.

Sowjettruppen zogen nach der Kapitulation der deutschen Truppen im April in die Stadt ein. Noch im Herbst 1945 annektiere Sowjet-Machthaber Josef Stalin den nördlichen Teil der ehemaligen Provinz Ostpreußen inklusive Königsberg. Er rechtfertigte das vor allem mit dem Bedarf für einen eisfreien Hafen in der Ostsee.

Zwei Jahre später wurde die verbliebene deutsche Bevölkerung vertrieben. Die Region wurde zu einem militärischen Sperrgebiet, das weitgehend von der Außenwelt abgeschottet war. Durch den Zerfall der Sowjetunion und die Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1990 wurde Kaliningrad zu einer Exklave.