Eine Pflegerin pflegt eine ältere Frau
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Begutachtung

Was der Pflegereform zum großen Wurf fehlt

Pflegeorganisationen, Gewerkschaft und Sozialversicherungsdachverband sehen bei der Pflegereform der Bundesregierung noch Nachbesserungsbedarf: Die zusätzliche Finanzierung sei nicht nachhaltig, sowohl beim Pflegepersonal als auch bei den pflegenden Angehörigen seien diverse Gruppen von den angekündigten Boni ausgenommen. Anreize, in den Pflegeberuf zu wechseln oder in diesem zu bleiben, liefere das Paket kaum, so der Tenor in den Stellungnahmen zu den Gesetzesentwürfen.

Dass die Regierung das Thema Pflege angegangen ist, wird in den Stellungnahmen einhellig begrüßt, bei der Ausgestaltung allerdings noch Verbesserungsbedarf gesehen: Die für 2022 und 2023 angekündigten 520 Mio. Euro für Gehaltssteigerungen in Pflegeberufen etwa seien ein wichtiges Zeichen der Anerkennung.

Allerdings werde durch die Unterscheidung in Pflege und Betreuung ein Großteil der Sozialbetreuungsberufe und das komplette Personal aus Heimhilfe und Behindertenarbeit von den Bonuszahlungen ausgeschlossen, kritisieren etwa Diakonie, Volkshilfe und Rotes Kreuz.

Der Großteil der Maßnahmen sei zudem auf zwei oder drei Jahre befristet. Die Gesundheitsgewerkschaft in der GÖD fordert stattdessen eine „mittelfristige Perspektive“, die Caritas „dauerhafte Änderungen“. Der Dachverband der Krankenkassen pocht wiederum darauf, dass Entgelterhöhungen nicht an die Voraussetzung geknüpft sein dürften, „dass das Pflegepersonal noch mehr leisten muss“.

Gehaltsbonus als zu geringer Anreiz

Das Rote Kreuz erwartet ebenso Probleme bei der Verrechnung der Entgelterhöhungen wie der Verein karitativer Arbeitgeber*innen (VkA), in dem 41 gemeinnützige Organisationen aus dem karitativen und kirchlichen Bereich vertreten sind. Die Gehaltsboni sollten deshalb erst 2023 und 2024 ausbezahlt werden. Die Sozialwirtschaft Österreich als Interessenvertretung von Arbeitgebern im privaten Sozial- und Gesundheitsbereich betont in ihrer Stellungnahme, dass die Träger zu einer Vorfinanzierung der Boni nicht in der Lage sein werden.

Ein befristeter Gehaltsbonus biete zudem wenig Anreiz, in den Pflegeberuf einzusteigen, warnt die Volkshilfe. „Wir würden uns über Klarstellungen, auch der Bundesländer, freuen, um echte Gehaltserhöhungen vornehmen zu können“, so Direktor Erich Fenninger per Aussendung. Für ihn ist außerdem fraglich, wie das Personal ab dem 43. Lebensjahr in den Genuss der versprochenen „Entlastungswoche“ kommen soll, wo doch wegen des Personalmangels Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aktuell schon ihren regulären Urlaub nicht in Anspruch nehmen könnten.

Rauch spricht von Signal

Natürlich gebe es an dem Paket noch Kritikpunkte, sagte Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) gegenüber Ö1: „Das kann nicht alles gewesen sein.“ Aber es sei enorm wichtig, das Signal zu senden, dass die Politik erkannt habe, dass es mehr Geld brauche. Möglicherweise werde es bereits im Herbst weitere Ideen gebe.

Pflege in Einrichtungen seltener, als viele denken

Die Meinung über die Pflege in Österreich und die Realität gehen bisweilen beträchtlich auseinander. Etwa glaubt die Mehrheit, dass rund die Hälfte der Pflegebedürftigen hierzulande in Alters- oder Pflegeheimen betreut werde. Tatsächlich ist es aber nur ein Fünftel der Pflegegeldbezieher, wie ein am Dienstag präsentierter Gallup-WIFO-„Meinungscheck“ zeigt. Knapp 80 Prozent der Menschen, die Pflegegeld beziehen, werden weitgehend zu Hause betreut.

Die Unterschätzung der informellen Pflege sei „enorm“, sagte die stellvertretende WIFO-Direktorin Ulrike Famira-Mühlberger bei einer Onlinepressekonferenz. Von den 79 Prozent, die überwiegend in den eigenen vier Wänden betreut werden, würden sogar 41 Prozent überhaupt keine Pflegedienstleistung über die Angehörigen hinaus in Anspruch nehmen, 27 Prozent griffen zumindest auf zusätzliche mobile Dienste zurück.

„Sieben Prozent erhalten eine 24-Stunden-Betreuung und ein kleinerer Teil von drei Prozent eine teilstationäre oder Kurzzeitpflege“, so Famira-Mühlberger. Für sie geht die Pflegereform „absolut in die richtige Richtung“, da sie versuche, die Arbeitsbedingungen in der Pflege und die Ausbildung zu verbessern. Freilich sei sie nur ein „erster Schritt“, dem weitere folgen müssten.

Kritik an geringem Ausbildungsbeitrag

Änderungsbedarf wird in den Stellungnahmen zur Pflegereform auch beim Ausbildungsbeitrag von 600 Euro gesehen: Dieser müsse für die gesamte Ausbildungsdauer gelten und nicht nur im ersten Jahr, außerdem müssten Pflichtpraktika in allen Pflege- und Sozialbetreuungsberufen in der Pflege in derselben Höhe abgeglichen werden, fordern etwa Rotes Kreuz und Volkshilfe.

Für die GÖD ist diese Unterstützung „nicht ausreichend im Sinne einer Existenzsicherung“. Der Rechnungshof (RH) vermisst nicht nur eine längerfristige Finanzierung, sondern auch Harmonisierungsmaßnahmen in der Ausbildung.

Zu wenig Entlastung von Angehörigen?

Außerdem geht die Entlastung pflegender Angehöriger laut Stellungnahmen nicht weit genug: So haben nur rund 24.000 der insgesamt rund 950.000 pflegenden Angehörigen Anspruch auf den Angehörigenbonus von 1.500 Euro. Voraussetzung sind nämlich Pflegestufe vier und Selbst- oder Weiterversicherung der Angehörigen. Pensionisten, die laut Sozialversicherungsdachverband die Hälfte der Angehörigenpflege übernehmen, sind damit ausgeschlossen, kritisiert etwa das Rotes Kreuz.

Außerdem ist der Bonus laut Caritas zu gering, um entlastend zu wirken. Mit Sachleistungen könnte man gezielter und wirkungsvoller unterstützen. Laut Dachverband der Sozialversicherungsträger kann wegen der für die Auszahlung notwendigen Vorarbeiten zudem „nicht sichergestellt werden“, dass der Angehörigenbonus wie geplant ab 1. Jänner 2023 ausgezahlt wird.

Kompetenzerweiterung gefällt nicht allen

Probleme erwartet die GÖD-Gesundheitsgewerkschaft bei der geplanten Kompetenzerweiterung für die Pflegeassistenzberufe. Diese bedeute noch mehr Aufgaben in gleicher Zeit und ohne zusätzliche Ausbildungsdauer, Patientenorientierung und Pflegequalität rückten dadurch in den Hintergrund. Auch der Dachverband der Krankenkassen fürchtet mehr Arbeit und Verantwortung sowie allfällige Haftungsfragen für diese Gruppe.

Außerdem warnen die Gewerkschafter vor einer Änderung der Sprachüberprüfung: Die künftig dafür zuständigen Dienstgeber würden angesichts des Personalmangels das Niveau sehr gering ansetzen, das werde zu Pflegefehlern und sinkender Qualität führen. Dem Land Tirol und den Salzburger Landeskliniken (SALK) gehen wiederum die Kompetenzerweiterungen nicht weit genug.

AK will Anerkennung als Schwerarbeit

Die Arbeiterkammer (AK) spricht sich dafür aus, stationäre und mobile Pflege als Schwerarbeit anzuerkennen und den Beschäftigten damit den Zugang zur Schwerarbeitspension zu ermöglichen. Derzeit seien die Voraussetzungen sehr restriktiv, kritisierte Wolfgang Panhölzl, Leiter der Abteilung Sozialversicherung in der AK Wien, am Dienstag vor Journalisten. Studien würden hohe körperliche und psychische Belastungen und einen extremen Arbeitsdruck in der Branche belegen.

Die AK verwies etwa auf eine im April durchgeführte Social-Media-Umfrage unter 2.210 Beschäftigten, davon mehr als 600 aus dem Gesundheits- und Pflegebereich. Dass sie ihren Beruf bis zur Pension ausüben können werden, bezweifeln 72 Prozent der Personen aus der Pflege. 96 Prozent fühlen sich nach der Arbeit erschöpft, müde und gestresst, 66 Prozent haben Rücken- oder Kopfschmerzen, 62 Prozent beides. All diese Werte seien um bis zu zehn Prozent höher als in anderen Branchen, hieß es.

Verweis auf hohe Belastung

Silvia Rosoli, Chefin der Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik, verwies auch auf eine Studie aus dem Vorjahr, die hohe Belastungen durch Depressionssymptome und Angst ergeben hatte. Es brauche deshalb ein Szenario für das Ende des Berufslebens, „ein Licht am Ende des Tunnels“, sagte sie.

Derzeit werde etwa nur die Palliativpflege als psychisch belastende Arbeit anerkannt, reine Nachtarbeit werde nicht berücksichtigt (sondern nur Wechsel zwischen Tag und Nacht), ebenso wenig wie eine physische und psychische Mehrfachbelastung.

Auch die Kalorienverbrauchsregelung (hier muss an 15 Arbeitstagen pro Monat ein bestimmter Wert überstiegen werden, in der Pflege mit Zwölfstundenschichten sind es aber nur 13) gehört aus AK-Sicht angepasst. Zudem müssten Ausbildungszeiten berücksichtigt und der Schul- und Studienzeitennachkauf günstiger werden, so die Forderungen der AK.

Überarbeitung des Pflegegelds gefordert

Einige Baustellen werden bei der Reform laut Stellungnahmen zudem ausgespart: Die Diakonie fordert von Bund und Ländern Anpassungen der Personalschlüssel und Normverrechnungssätze, „um von der Stoppuhr-Pflege wegzukommen“. Außerdem brauche es eine Entlastung Angehöriger in der Pflege etwa durch mehr mobile Dienste, Kurzzeitpflege etc.

Ausständig sind laut Volkshilfe, Rotem Kreuz und Caritas außerdem eine Überarbeitung des Pflegegelds, das in der Praxis nicht dem tatsächlichen Pflegebedarf entspreche. Die AK begrüßt die Initiative der Regierung grundsätzlich, fragt aber ebenfalls, wie eine mittel- bzw. langfristig bessere und einheitliche Entlohnung gewährleistet werden kann.