Flamme auf einem Gasherd
ORF.at/Christian Öser
Gasnotfallplan verschärft

Deutschland sendet lautes Warnsignal

Die deutsche Regierung hat angesichts stockender Gaslieferungen aus Russland am Dienstag die zweite Stufe seines dreiphasigen Gasnotfallplans ausgerufen. Die Lage sei ernst, Gas nun ein „knappes Gut“, so Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Damit legt Deutschland die Weichen für mehrere regulierende Maßnahmen, sendet aber vor allem auch ein Warnsignal an Bevölkerung, Wirtschaft und andere europäische Staaten. Mit Blick auf den Winter gelte es jetzt, ins Handeln und Energiesparen zu kommen.

„Auch wenn aktuell noch Gasmengen am Markt beschafft werden können und noch eingespeichert wird: Die Lage ist ernst, und der Winter wird kommen“, so Habeck. Derzeit sei Deutschlands Versorgungssicherheit zwar gewährleistet, doch die jüngsten Liefereinschränkungen Russlands in der Pipeline „Nord Stream 1“ würden die Lage deutlich erschweren. Diese seien eine „ökonomische Attacke“, so Habeck erneut.

Auch hält er es für möglich, dass Russland nach dem Wartungsintervall der Pipeline gar kein Gas mehr liefert. Auf die entsprechende Frage sagt er laut Vorabmeldung im RTL Nachtjournal: „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich befürchte es nicht.“ Das Argument technischer Probleme sei vorgeschoben, es handle sich um eine politische Maßnahme aus Moskau.

Verdreifachter Gaspreis „nicht auszuschließen“

„Und wer weiß schon, was die nächste politische Maßnahme ist. Also, sorgenfrei bin ich da nicht“, so Harbeck. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, dass sich die Gasrechnungen verdreifachten, sagte Habeck: „Das ist nicht auszuschließen (…) Ja, das ist im Bereich des Möglichen.“ Es komme eine Preiswelle auf Deutschland zu, die faktisch nicht mehr abzuwenden sei.

Die deutschen Gasspeicher sind derzeit zu 58 Prozent gefüllt. Bei komplett gefüllten Gasspeichern würde Deutschland ganz ohne Lieferungen aus Russland zweieinhalb Monate auskommen. Das sagte der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, im ZDF. Das gelte für einen durchschnittlich kalten Winter. Daraus folge, Deutschland brauche zusätzliche Lieferanten und müsse auch Gas einsparen. Der deutsche Finanzminister Christian Lindner sagte im ZDF, Gas sollte nicht mehr für die Stromerzeugung verwendet werden. Es werde zum Heizen und für bestimmte industrielle Prozesse benötigt.

„Lage bedrohlich“

Deutsche Wirtschafts- und Umweltverbände sowie Ökonominnen und Ökonomen teilten die Bedenken. „Mit der Ausrufung der Alarmstufe ist nun klar: Die Lage auf dem Gasmarkt ist bedrohlich. Die Drosselung der Ströme aus Russland führt nicht unmittelbar zu einem Zusammenbruch der Gasversorgung in Deutschland. Aber wir können nicht mehr hinreichend Gas einspeichern – und das werden wir im Winter zu spüren bekommen. Es droht dann eine Rationierung des Gasbezugs und damit Produktionsstopps in der Industrie. Eine schwere Rezession könnte die Folge sein. Auch die Verbraucher werden das zu spüren bekommen“, so der Ökonom Jens Südekum zu Reuters.

„Alle Beteiligten müssen alarmiert sein über die Situation in der Gasversorgung. Die Gefahr ist real, dass wir in eine Unterversorgung und damit in ein Rationierungsregime hineinlaufen“, hieß es etwa auch vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau. „Die Gasmangellage gefährdet die Versorgung von Bevölkerung und notwendigen Lieferketten in der Wirtschaft. Die Bundesregierung muss deshalb alle Maßnahmen ergreifen, um die Beschäftigten und die notwendige Infrastruktur für die Energieversorgung Deutschlands zu schützen“, so auch die Gewerkschaft Verdi.

Warnungen vor Folgen bei anhaltender Drosselung

Die Bundesnetzagentur mahnte ebenfalls vor einem Szenario, in dem Russland die Gasversorgung weiterhin beschränkt. „Die Gasflüsse aus der ‚Nord Stream 1‘ wurden auf etwa 40 Prozent der Maximalleistung gedrosselt. Sollten die russischen Gaslieferungen über die ‚Nord Stream 1‘-Leitung weiterhin auf diesem niedrigen Niveau verharren, ist ein Speicherstand von 90 Prozent bis Dezember kaum mehr ohne zusätzliche Maßnahmen erreichbar.“ Von der Reduktion sei auch die Weitergabe von Gas in andere europäische Länder wie zum Beispiel Frankreich, Tschechien und Österreich betroffen.

Österreich bleibt bei Frühwarnstufe

Österreich selbst plant derzeit keine Verschärfung, hierzulande soll vorerst weiter die Frühwarnstufe gelten. Das habe die Bundesregierung nach Beratungen des im für Energie zuständigen Klimaschutzministeriums eingerichteten Krisenstabes beschlossen. Aber Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) schrieb in einer Stellungnahme: „Die Lage wird engmaschig überwacht und stündlich neu bewertet.“

Kritik an Umgang mit Gaskrise

Die Bundesregierung wurde wegen ihres Umgangs mit den Gaslieferungen aus Russland nach Österreich kritisiert. Auch in Deutschland herrscht Druck. Dort wurde am Donnerstag die zweite GasaAlarmstufe ausgerufen.

Entscheidend seien Gasliefermengen und der Speicheraufbau. Sollte der Speicheraufbau gefährdet sein, „müssen wir Maßnahmen ergreifen“. Russland sei kein verlässliches Gegenüber. Der Speicherstand betrage 42,7 Prozent, und auch am Donnerstag sei die Versorgung sichergestellt.

Auch die E-Control betonte, dass die Gasflüsse nach Deutschland derzeit erheblich stärker eingeschränkt seien als jene nach Österreich. In Österreich komme nach wie vor so viel Gas an, dass nicht nur der tägliche Verbrauch gedeckt, sondern auch weiterhin Gas eingespeichert werden kann. Hierzulande werden rund 80 Prozent des Gases aus Russland bezogen.

Erdgasspeicher in Baumgarten an der March, Österreich
APA/Harald Schneider
In Österreich sieht man derzeit keinen Anlass zur Anhebung der Frühwarnstufe

Speicher: EU-Ziel von 80 Prozent bis November

Trotzdem ist Deutschlands Entscheidung auch ein Mahnruf für andere EU-Staaten. Die EU-Kommission hat die Mitglieder dazu aufgerufen, die Speicher bis zum 1. November zu 80 Prozent zu füllen. Dieses Ziel wird durch Russlands Lieferverknappung bei der Pipeline „Nord Stream 1“ und die steigenden Preise für Gas aus anderen Quellen aber bedeutend erschwert. Am Montag sollen die Energieminister zusammenkommen und mögliche Maßnahmen besprechen. Man bereite sich jedenfalls auf Versorgungsprobleme vor.

EU-Klimakommissar Frans Timmermans sagte am Donnerstag, dass zehn der 27 EU-Staaten bisher Frühwarnungen zur Gasversorgung gemeldet hätten. „Das Risiko einer gravierenden Störung bei der Gasversorgung ist realistischer als jemals zuvor.“ Gleichzeitig teilte die EU-Kommission angesichts Deutschlands Schritt mit, dass die Versorgung Deutschlands und jener der EU derzeit gesichert sei. Reduzierte russische Lieferungen könnten aktuell kompensiert werden.

IEA warnt

Die Internationale Energieagentur (IEA) hatte am Dienstag gewarnt, dass Russland die Versorgung aus politischem Kalkül weiterhin niedrig halten könnte. „Ich würde nicht ausschließen, dass Russland verschiedene Probleme hier und da und damit weitere Entschuldigungen findet, um die Gaslieferungen nach Europa zu reduzieren oder ganz zu beenden“, so IEA-Chef Fatih Birol. „Aus diesem Grund braucht Europa Notfallpläne.“

Moskau bestreitet politisches Motiv

Moskau dementierte indes erneut eine politische Absicht. „Die Russische Föderation erfüllt alle ihre Verpflichtungen“, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Sanktionsbedingte Verzögerungen bei Reparaturarbeiten seien die Ursache des Problems. Nach russischen Angaben steckt eine Siemens-Turbine für die Pipeline im Ausland fest. Eine Wartung der Pipeline ist Mitte Juli geplant.

Derzeit lässt sich aus Sicht Berlins nicht sagen, ob Russland nach Abschluss der Wartung die Lieferungen wenigstens auf dem verringerten Niveau von 40 Prozent wieder aufnimmt. Habeck erneuerte am Donnerstagabend im ZDF die Befürchtung, dass dies nicht der Fall sein könnte: Auf die entsprechende Frage sagte er im RTL-„Nachtjournal“: „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich befürchte es nicht.“

Angst vor „Lehmann-Brothers-Effekt“

Habeck glaubt, dass das Argument technischer Probleme vom Kreml vorgeschoben sei, vielmehr handle es sich um eine politische Maßnahme. Habeck befürchtet angesichts der drohenden Gastnotlage einen Dominoeffekt hin zu einer schweren Rezession. „Das Risiko, dass Energieversorger möglicherweise in eine ökonomische Lage kommen, wo sie nicht mehr Geld am Markt aufnehmen können, um Gas einzukaufen“, sei hoch, sagte Habeck in den ARD-„Tagesthemen“ laut Vorabmeldung. Es müsse verhindert werden, „dass sie aus dem Markt rausfallen“.

Er befürchte „eine Art Lehman-Brothers-Effekt im Energiemarkt“, der dann auch die Stadtwerke, die Wirtschafts- und Industrieunternehmen und die Verbraucher betreffe.