Pipeline
Reuters/Hannibal Hanschke
„Ernste Lage“

Wo wie viel weniger Gas fließt

Zwar stehen die halbierten Lieferungen Russlands über die Gaspipeline „Nord Stream“ nach Deutschland im Fokus der Aufmerksamkeit in Europa, daneben hat Russland aber auch auf zahlreichen anderen Kanälen den Gasfluss nach Europa gedrosselt. In Summe kommt deutlich weniger Gas nach Europa – auch deutlich weniger als sonst zu dieser Jahreszeit. Es sei eine „ernste und sehr angespannte Lage“, sagte Carola Millgramm, Leiterin der Gasabteilung beim Energieregulator E-Control.

So liegt seit Ende April die „Jamal“-Pipeline, die über Polen nach Brandenburg führt, ganz brach. Offizieller Grund dafür sind die russischen Sanktionen gegen das polnische Unternehmen Europol GAZ, Eigentümer des polnischen Teils der „Jamal“-Europa-Gaspipeline.

Derzeit ist eine Woche lang wegen Wartungsarbeiten die über die Türkei nach Südosteuropa führende Pipeline „TurkStream“ ganz gesperrt. Das war schon länger angekündigt. Branchenexpertinnen und -experten in Österreich hoffen, dass der Betrieb danach wieder aufgenommen wird. Aber eine Unsicherheit bleibt, obwohl damit Länder versorgt werden, die Russland freundlich gesinnt sind, wie die Türkei, Serbien und Ungarn.

Grafik zu Gasimporten
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ENTSOG/IV

Drastischer Rückgang bei Pipelines über Ukraine

In Ungarn wird auch von der Politik betont, wie reibungslos die Gaslieferungen laufen – die Wartungsarbeiten werden in den staatlich kontrollierten Medien nicht einmal erwähnt. Auch in Serbien und der Türkei sind diese Wartungsarbeiten kein Thema.

Der russische Gasmonopolist Gasprom nutzt auch eine von zwei Pipelines durch die Ukraine gar nicht mehr und die Kapazitäten für die zweite Pipeline durch die Ukraine nur zu etwas mehr als der Hälfte. Gebucht und bezahlt wurden hier Tagesmengen von 77 Mio. Kubikmetern, es fließen aber nur 41 Mio. Kubikmeter, geht aus Zahlen der E-Control hervor.

„Nord Stream 1“ nur noch bei 40 Prozent

„Nord Stream 1“, die über die Ostsee nach Deutschland führt, wird derzeit nur mit 40 Prozent der Kapazität befüllt. Hier beruft sich Gasprom auf sanktionsbedingte Verzögerungen bei Reparaturarbeiten als Ursache und weist politische Motive von sich. Das wird aber in der EU allgemein bezweifelt. Zudem steht im Juli eine Wartung von „Nord Stream 1“ an, die zur vorübergehenden totalen Schließung der Verbindung führen wird – und die Wiederbefüllung danach ist offen.

So einen starken Rückgang bei den Gaslieferungen habe es in anderen Jahren nicht gegeben, sagte Millgramm im Gespräch mit der APA. „Typisch für den Sommer ist die Situation also nicht.“ Die E-Control beobachte das täglich, derzeit reichen in Österreich die ins Land kommenden Mengen, um den Verbrauch zu decken und etwas einzuspeichern. Aber im Juni, Juli und August gebe es auch die geringsten Verbräuche des Jahres. Daher stelle sich die E-Control jetzt schon auf verschiedenste Szenarien ein.

Vorerst keine Alarmstufe in Österreich

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte am Donnerstag die zweite von drei Eskalationsstufen im Notfallplan Gas ausgerufen, die „Alarmstufe“. Mit dieser soll Experten zufolge der Ernst der Lage verdeutlicht werden – mit dem Ziel, möglichst viel Energie freiwillig einzusparen. Die erste Stufe, die Frühwarnstufe, galt seit Ende März, also gut vier Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, der die Energiepreise in die Höhe getrieben hat.

Österreich plant laut Klimaministerium vorerst keine Ausrufung der Alarmstufe im Gasnotfallplan. In Österreich gilt weiter die Frühwarnstufe. „Die Lage wird engmaschig überwacht und stündlich neu bewertet“, so Umwelt- und Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne) in einer Stellungnahme. Entscheidend seien Gasliefermengen und der Speicheraufbau. Sollte der Speicheraufbau gefährdet sein, „müssen wir Maßnahmen ergreifen“. Russland sei kein verlässliches Gegenüber.

IEA-Warnung vor totalem Stopp

Fatih Birol, Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), mahnt die EU-Staaten in einem Interview mit der „Financial Times“, sich auf einen totalen Lieferstopp für russisches Gas einzustellen. Daher sollten die Nachfrage gebremst und Atomkraftwerke länger am Netz behalten werden. „Je mehr wir uns dem Winter nähern, desto mehr verstehen wir die Absichten Russlands“, sagte er. „Ich glaube, dass die Kürzungen darauf abzielen, zu verhindern, dass Europa die Lager füllt, und Russlands Hebelwirkung in den Wintermonaten zu erhöhen.“ Auch Habeck warnte vor einem Totalausfall der Lieferungen aus Russland.

Drastische Preiserhöhung erwartet

Die Bundesnetzagentur in Deutschland warnt: „Die Lage ist angespannt, und eine Verschlechterung der Situation kann nicht ausgeschlossen werden“, auch wenn die Versorgung aktuell gewährleistet sei. Die geplante Füllung der Gasspeicher auf 90 Prozent der Kapazität bis zum November sei aber bei den aktuellen Gasflüssen ohne „zusätzliche Maßnahmen“ nicht möglich. Auch die Weitergabe von Gas an Österreich, Frankreich oder Tschechien sei betroffen.

Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, warnt indes vor drastischen Preiserhöhungen. „Schon jetzt werden die Gaspreissteigerungen des letzten Herbstes weitergegeben“, sagte Müller am Freitag in der ARD. „Das ist knapp plus 30, plus 50, teilweise plus 80 Prozent. Das ist die Vergangenheit aus dem Herbst.“ Seitdem habe sich der Gaspreis Stand vergangene Woche vervierfacht und inzwischen sogar versechsfacht. Das seien riesige Preissprünge, die aber nicht alle eins zu eins an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben würden.

Belgien warnt vor EU-weiten Auswirkungen

Belgiens Ministerpräsident Alexander de Croo hat vor EU-weiten Auswirkungen gewarnt, sollte Deutschland Schwierigkeiten mit der Gasversorgung bekommen. „Wenn Deutschland in Probleme gerät, dann hat das auch einen enormen Einfluss auf alle anderen europäischen Länder, auch auf unser Land“, sagte er am Freitag am Rande des EU-Gipfels in Brüssel. Mit Blick darauf, dass Russland sich eigentlich auch im Wirtschaftskrieg mit Europa befinde, müsse man zusammenstehen.

„Es gibt kein besseres Argument für die Tatsache, dass wir das gemeinsam machen müssen, als die Folgen zu betrachten, die Deutschland potenziell erleidet“, so der Regierungschef. Man werde vielleicht einen schwierigen Winter erleben. Mit Blick auf mögliche Schwierigkeiten bei der Gasversorgung sprach er sich für Preisobergrenzen und gemeinsame Einkäufe des Rohstoffs aus.

Während sich die EU-Staaten bereits im März bei einem Gipfel darauf verständigt hatten, Gas gemeinsam einkaufen zu wollen, sieht es bei Preisobergrenzen anders aus. Bisher gibt es nur für Spanien und Portugal entsprechende Ausnahmen. Vor allem Länder wie Deutschland und die Niederlande sehen Preisdeckel kritisch.