Gasleitungen
Reuters/Bernadett Szabo
Augen auf Deutschland

EU sucht Ausweg aus „schwierigem Winter“

Nach der Anhebung der Warnstufe in Deutschland hat das Thema Gasversorgung am Freitag den zweiten Gipfeltag der EU-Staats- und -Regierungschefs in Brüssel überschattet. Schon beim Eintreffen war von einem „schwierigen Winter“ die Rede. Bestrebungen, um bei der Energieversorgung besser an einem Strang zu ziehen, sollen verstärkt werden. In Österreich wartet man mit neuen Warnungen – und richtet die Augen dennoch auf Berlin.

An sich nur als Randthema gedacht, führte die Entwicklung in Deutschland kurzerhand dazu, dass die Gasversorgung den zweiten Gipfeltag bestimmte. In den Schlussfolgerungen fand sich dann auch die klare Aufforderung: Russland setze Gas als Waffe ein, die Sicherstellung der Energieversorgung zu erschwinglichen Preisen solle von der EU-Kommission mit Priorität behandelt werden.

Gelöst werden soll das über eine gemeinsame Plattform der EU, die schon im Frühling ins Leben gerufen wurde. Österreich beteiligt sich daran: „Wir haben unsere Quantitäten eingemeldet“, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) nach dem Gipfel. Über die von der EU-Kommission eingerichtete und koordinierte Plattform soll das Gas am Weltmarkt für die gesamte EU erworben werden. Das Bündeln der Kaufkraft ermöglicht einen niedrigeren Preis.

Situation in Deutschland „Weckruf“ für Europa

Wie Belgiens Ministerpräsident Alexander De Croo im Anschluss an das Treffen der EU-Länder sagte, gab es bei dem Thema diesmal offenbar mehr inhaltliche Überschneidungen als bisher. Die Maßnahmen Berlins seien ein „Weckruf“ für alle anderen EU-Staaten gewesen, so De Croo.

Belgiens Premier Alexander De Croo
APA/AFP/Ludovic Marin
Der belgische Ministerpräsident De Croo sprach von einem „Weckruf“ für Europa

Schon vor Beginn des Gipfels sorgten die Aussagen des Belgiers für Aufsehen: „Wenn Deutschland in Probleme gerät, dann hat das auch einen enormen Einfluss auf alle anderen europäischen Länder, auch auf unser Land.“ Belgien gilt als Verfechter von europäischen Preisobergrenzen und gemeinsamen Energieeinkäufen – und sprach sich auch im Zuge des Gipfels einmal mehr dafür aus. Auch Irlands Regierungschef Micheal Martin warnte vor dem Gipfel, man stehe „vor einem sehr schwierigen Winter“.

Österreich behält Warnstufe bei

In der EU schauen deshalb nun viele auf die Lage in der größten Volkswirtschaft der Union – nicht zuletzt auch Österreich. Berlin rief am Donnerstag die Alarmstufe im Notfallplan Gas aus, Österreich nicht. Deutschland brauche diese nächste Warnstufe, damit es noch mehr Kohlekraftwerke ans Netz bringen könne, so Nehammer. „Österreich hat generell einen anderen Energiemix.“

Bundeskanzler Karl Nehammer
APA/AFP/John Thys
Nehammer will vorerst an der Frühwarnstufe in Österreich festhalten

Was weitere Warnungen in Österreich anbelangt, sagte auch Umwelt- und Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne): „Die Lage wird engmaschig überwacht und stündlich neu bewertet.“ Entscheidend seien Gasliefermengen und der Speicheraufbau. Sollte der Speicheraufbau gefährdet sein, „müssen wir Maßnahmen ergreifen“. Russland sei kein verlässliches Gegenüber.

Man nehme „die Entwicklung sehr, sehr ernst“, so der Kanzler. Ähnlich wie Belgien fürchte man große Auswirkungen durch die Entwicklungen in Deutschland. „Klar ist auch, wenn die deutsche Wirtschaft einen schweren Einbruch erleidet, hängt natürlich Österreich mit dran, weil wir ganz enge Partner sind“, sagte Nehammer.

Preisdeckel als umstrittenes Thema

Auch bei einem EU-weiten Preisdeckel wäre Österreich dabei – diesen zu erreichen wäre eine Sensation, sagte Nehammer. Das sei allerdings „technisch schwer“ umzusetzen. Die EU-Kommission habe den Auftrag, nach Lösungen zu suchen, und „alles, was da positiv an Lösungen kommt, nehmen wir gerne mit“, so Nehammer.

Das Thema ist mit dem Treffen der EU-Spitzen am Donnerstag und Freitag jedenfalls noch lange nicht abgeschlossen – und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi schlug bereits einen weiteren Gipfel im Juli vor, um über eine Preisobergrenze zu diskutieren. Zwar sei sein Vorschlag abgelehnt worden, so Draghi – erst im Oktober soll wieder auf Spitzenebene geredet werden. Sollte sich die Lage zuvor aber fundamental ändern, etwa durch einen befürchteten Stopp der Gaslieferungen aus Russland, könnte jederzeit ein spontaner Sondergipfel stattfinden, so Draghi.

E-Control-Expertin: „Sehr angespannte Lage“

Es sei eine „ernste und sehr angespannte Lage“, sagte unterdessen Carola Millgramm, Leiterin der Gasabteilung beim Energieregulator E-Control. So einen starken Rückgang bei den Gaslieferungen habe es in anderen Jahren nicht gegeben, sagte Millgramm im Gespräch mit der APA. „Typisch für den Sommer ist die Situation also nicht.“

Grafik zu Gasimporten
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ENTSOG/IV

Die E-Control beobachte das täglich, derzeit reichen in Österreich die ins Land kommenden Mengen, um den Verbrauch zu decken und etwas einzuspeichern. Aber im Juni, Juli und August gebe es auch die geringsten Verbräuche des Jahres. Daher stelle sich die E-Control jetzt schon auf verschiedenste Szenarien ein.

IEA-Warnung vor totalem Stopp

Fatih Birol, Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), mahnt die EU-Staaten in einem Interview mit der „Financial Times“, sich auf einen totalen Lieferstopp für russisches Gas einzustellen. Daher sollten die Nachfrage gebremst und Atomkraftwerke länger am Netz behalten werden. „Je mehr wir uns dem Winter nähern, desto mehr verstehen wir die Absichten Russlands“, sagte er. „Ich glaube, dass die Kürzungen darauf abzielen, zu verhindern, dass Europa die Lager füllt, und Russlands Hebelwirkung in den Wintermonaten zu erhöhen.“ Ein EU-Diplomat sagte am Freitag, es sei „nur eine Frage der Zeit, bis Russland alle Gaslieferungen einstellt.“

Scholz zweifelt an technischen Gründen

Den Vorwurf, dass Russland seine Position beim Gas ausnutze, befeuerte auch Deutschlands Kanzler Olaf Scholz. Er zweifelt, dass die Drosselung von Gaslieferungen an technischen Gründen liege. „Niemand in der EU glaubt daran, das Russland seine Gaslieferungen aus technischen Gründen reduziert“, sagte Scholz. Man sei in der EU auf gutem Wege, die Energiepolitik besser zu koordinieren. Er wolle nicht spekulieren, wie sehr man die Lieferung aus alternativen Gasquellen beschleunigen könne. Aber viele EU-Länder arbeiteten mit Hochdruck daran, so Scholz.

„Auf das Beste hoffen, auf das Schlimmste vorbereiten“

Die EU-Kommission rechnete unterdessen vor, wie sich Energiesparen auf den Gasverbrauch auswirken könnte. Wenn man die Heiztemperatur in der gesamten EU nur um zwei Grad senke und die von Klimaanlagen um zwei Grad erhöhe, könne man die gesamten Lieferungen der Ostsee-Pipeline „Nord Stream 1“ einsparen, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Darin liegt also eine Menge Potenzial.“ Zugleich bekräftigte von der Leyen, dass auch die Bezugsquellen von Energieträgern diversifiziert und in Erneuerbare investiert werden müsse.

„Das Beste ist immer: auf das Beste hoffen, auf das Schlimmste vorbereitet sein. Und genau das tun wir jetzt“, sagte von der Leyen. Man habe bereits zu Beginn des Jahres damit begonnen. Ihre Behörde habe alle nationalen Notfallpläne überprüft, um sicherzustellen, dass alle auf weitere Liefereinschränkungen vorbereitet sind. Zugleich arbeite man mit der Industrie und den 27 EU-Staaten an einem europäischen Plan, der im Notfall die Gasnachfrage reduzieren soll.