Pro-Choice Protestierende vor Supreme Court halten Plakate
Reuters/Evelyn Hockstein
Abtreibungsurteil

„Big Pharma“ als Hürde für US-Republikaner

Das historische und umstrittene Urteil des Supreme Court hat den Weg für totale oder weitestgehende Verbote von Abtreibungen in vielen US-Bundesstaaten geebnet. Viele setzten entsprechende Gesetze unmittelbar nach Urteilsverkündung in Kraft. Die Abtreibungsbefürworterinnen und -befürworter versuchen nun alles, die Folgen für viele, vor allem sozial schlechtergestellte Frauen, abzumildern. Hilfe dabei könnten sie von der Pharmaindustrie erhalten.

„Big Pharma“, also die Pharmaindustrie, hat in der US-Politik aufgrund der großzügigen Wahlkampfspenden und der vielfach sehr engen Beziehungen zu Politikerinnen und Politikern einiges Gewicht. Und mehr als die Hälfte der Abtreibungen in den USA erfolgen mittlerweile medikamentös. Dies gilt daher als nächste konkrete Front im Kampf für und gegen die Möglichkeit, straffrei eine Schwangerschaft abzubrechen.

Viele erwarten eine komplizierte juristische Auseinandersetzung, die sich länger hinziehen könnte. Nicht nur Frauenrechtsgruppen werden versuchen, jedes einzelne der Abtreibungsverbotsgesetze, die Dutzende Bundestaaten beschlossen haben oder beschließen wollen, vor Gericht zu bekämpfen – sofern es dafür nach dem Aus von Roe v. Wade noch eine rechtliche Grundlage gibt. Eine der größten Hoffnungen liegt derzeit aber wohl auf Klagen von Pharmaunternehmen, die das als RU-486 bzw. als Mifepristone bekannte Abtreibungsmedikament produzieren. Sie haben – schon vor längerer Zeit – Klagen eingereicht, so etwa der Generikaproduzent GenProBio in Mississippi.

Medikament „Mifepristone“ im Regal
AP/Allen G. Breed
Die Abtreibungspille Mifepristone in einem Frauenzentrum in Alabama, in dem Abtreibung strikt verboten ist

Brisant ist dies insofern, als genau das Verbot von Abtreibungen ab der 15. Schwangerschaftswoche von Mississippi Gegenstand des jüngsten Urteils des Höchstgerichts in Washington DC war. Das Verbot wurde von einer konservativen Mehrheit des Gerichts als rechtmäßig anerkannt. Es hob damit die jahrzehntealte Entscheidung Roe v. Wade auf, die den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich legalisiert hatte.

Welche Bestimmungen haben Vorrang?

GenProBio reichte bereits 2020 eine Klage in Mississippi gegen die dort gesetzlich verhängten Einschränkungen für die Abtreibungspille ein. Im Wesentlichen argumentiert der Pharmakonzern, Mississippi verstoße damit gegen die von der US-weit für Medikamentenzulassung zuständigen Behörde FDA (Food and Drug Administration) erlassenen Regelungen. Denn diese sieht – anders als das Gesetz von Mississippi – keine Pflicht vor, dass die Pille von einem Arzt verschrieben und in dessen Gegenwart eingenommen werden muss.

Und die Vorgaben der FDA in diesem Bereich hätten Vorrang vor einzelstaatlichem Recht, argumentiert GenProBio. Ob das so ist, ist juristisch allerdings nicht eindeutig geklärt, so Fachleute gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Pro-Life Demonstranten vor Supreme Court
APA/AFP/Olivier Douliery
Abtreibungsgegnerinnen und -gegner jubeln über die Aufhebung von Roe v. Wade

„Geht nicht um Verbot des Medikaments“

Skeptiker verweisen darauf, dass Pharmafirmen klare Chancen hätten, wenn ein Bundesstaat explizit den Verkauf von Abtreibungsmedikamenten verbietet. Doch die meisten bestehenden und geplanten Verbote sind allgemeiner formuliert: „Es geht nicht darum, das Medikament zu verbieten. Es geht darum, Abtreibungen zu stoppen“, machte Katie Glenn bereits Ende Mai gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters klar, dass Abtreibungsgegnern diese juristische „Falle“ bewusst ist. Glenn arbeitet als Juristin für die Antiabtreibungsgruppe Americans United for Life.

Die Klage ist auch deshalb interessant, weil sie einen Weg für den US-Präsidenten Joe Biden und seine Demokraten weisen würde, das jüngste Höchstgerichtsurteil zumindest teilweise wieder US-weit auszuhebeln. Derzeit ist noch unklar, ob sich das Justizministerium der Klage des Pharmaunternehmens anschließt oder zumindest dem Gericht eine Stellungnahme mit der eigenen Position übermittelt. Der Staat Mississippi fordert, die Klage abzuweisen. Der zuständige Richter gab Anfang Juni bekannt, das Supreme-Court-Urteil abwarten zu wollen. Eine Entscheidung könnte also demnächst fallen.

Angepeilter „Lückenschluss“

Der Wunsch der Konservativen, Abtreibungen möglichst ganz zu verbieten, führt zu vielen juristischen Einzelkämpfen, um möglichst jede „Lücke“ zu schließen. So lassen sich viele Frauen die Medikamente per Post aus einem anderen Bundesstaat oder gar dem Ausland zusenden – und besorgen sich die dafür nötige Verschreibung am Telefon, also per Telemedizin – ebenfalls von außerhalb, sprich: einem Bundesstaat mit liberaleren Regeln. Viele konservativ regierte Bundesstaaten wollen auch diese noch verbliebenen Auswege mit speziellen gesetzlichen Verboten verunmöglichen.

Eine Folge dürften juristische Auseinandersetzungen auch zwischen einzelnen Bundesstaaten sein. Denn konservative Bundesstaaten könnten laut „New York Times“ versuchen, Ärztinnen und Ärzte in anderen Bundesstaaten mit Klagen einzudecken, sollten sie Patientinnen aus ihrem Bundesstaat Abtreibungspillen verschreiben.

„Zwischenstaatliches Pulverfass“

Umgekehrt haben demokratisch regierte Bundesstaaten bereits angekündigt, „sichere Häfen“ für Mädchen und Frauen, die eine Abtreibung wollen, sein zu wollen. Connecticut beispielsweise verabschiedete bereits ein Gesetz, dass in solchen Fällen die Justizzusammenarbeit zu verweigern sei, von solchen Klagen betroffene Ärzte nicht ausgeliefert werden dürfen und diese Gegenklage einreichen können.

Aus Sicht der Leiterin des Instituts für Gesundheitspolitik und -recht an der Northeastern University in Boston, Wendy Parmet, entstehe damit nicht weniger als ein „zwischenstaatliches Pulverfass“.