Joe Biden und Jens Stoltenberg beim NATO-Treffen
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Neue Strategie

NATO sieht Russland als „größte Bedrohung“

Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die NATO ihre Ausrichtung auf eine neue Grundlage und läutet mit der Aufnahme von Schweden und Finnland eine strategisch wichtige Runde der Erweiterung ein. Die Zahl der Kampftruppen soll drastisch erhöht werden. Moskau wird explizit als „größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten“ bezeichnet.

Mit einer deutlichen Aufrüstung im Osten und einer Erweiterung nach Norden reagiert die NATO auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die 30 Mitgliedstaaten beschlossen am Mittwoch auf ihrem Gipfel in Madrid, die Zahl der Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft von 40.000 auf über 300.000 zu erhöhen. Außerdem werden mehr schwere Waffen vor allem ins Baltikum und nach Polen verlegt. Nach wochenlanger Blockade der Türkei entschieden sie auch, Finnland und Schweden als neue Mitglieder aufzunehmen. Damit wird sich die Grenze des Bündnisses zu Russland um mehr als 1.300 Kilometer verlängern.

Im neuen strategischen Konzept der NATO wird Russland als „größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum“ bezeichnet. Der Ukraine sagten die 30 Staaten weitere Unterstützung für ihren schon 126 Tage andauernden Kampf gegen Russland zu. Auch zu China wurde in dem neuen Konzept erstmals Stellung bezogen – dessen Politik sei eine Herausforderung.

Türkei: Grünes Licht für NATO-Beitritte

Die Staats- und Regierungschefs der 30 NATO-Mitgliedsländer haben am Mittwoch in Madrid offiziell das Verfahren zur Aufnahme von Finnland und Schweden gestartet.

Die USA sagten zu, ihre Truppenpräsenz in Europa weiter auszubauen. „Gemeinsam mit unseren Verbündeten werden wir dafür sorgen, dass die NATO in der Lage ist, Bedrohungen aus allen Richtungen und in allen Bereichen – zu Lande, in der Luft und auf See – zu begegnen“, sagte US-Präsident Joe Biden.

NATO-Truppen in Lettland
Reuters/Ints Kalnins
Die NATO will die Zahl ihrer Soldaten unter hoher Bereitschaft auf „weit mehr als 300.000“ erhöhen

Stoltenberg: „Historischer Schritt“

„Der Krieg von Präsident Putin gegen die Ukraine hat den Frieden in Europa erschüttert und die größte Sicherheitskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. „Die NATO hat mit Stärke und Einigkeit reagiert.“

Die NATO

Die North Atlantic Treaty Organization (NATO) wurde 1949 als Verteidigungsbündnis gegründet. Sie umfasst inzwischen 30, und wohl bald 32 europäische und nordamerikanische Mitgliedstaaten. Artikel 5 des NATO-Vertrags besagt, dass ein bewaffneter Angriff auf einen Bündnispartner als Angriff gegen jeden der Bündnispartner gesehen wird.

Als historisch bezeichnete Stoltenberg die Entscheidung, Finnland und Schweden in die NATO einzuladen. Bis die beiden tatsächlich Mitglieder der Allianz sind, dürfte es jedoch noch einige Monate dauern. Die Beitrittsprotokolle sollen nach derzeitiger Planung am kommenden Dienstag unterzeichnet werden. Danach müssen diese noch von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

Finnland und Schweden hatten unter dem Eindruck des russischen Krieges gegen die Ukraine am 18. Mai die Mitgliedschaft in der NATO beantragt. Die Türkei blockierte jedoch wochenlang den Beitrittsprozess und begründete dies unter anderem mit der angeblichen Unterstützung Schwedens und Finnlands von „Terrororganisationen“ wie der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, der syrischen Kurdenmiliz YPG und der Gülen-Bewegung – in Stockholm und Helsinki werden diese Vorwürfe zurückgewiesen.

Jens Stoltenberg
Reuters/Susana Vera
Stoltenberg sprach von der „größten Neuaufstellung unserer kollektiven Verteidigung und Abschreckung seit dem Kalten Krieg“

Den Durchbruch brachte kurz vor Gipfelbeginn ein Treffen von Stoltenberg, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö. In einer Erklärung sichern die beiden nordischen Länder zu, auf mehrere Forderungen der Türkei einzugehen.

Putin sieht „imperiale Ambitionen“

Russlands Präsident Wladimir Putin warf der NATO „imperiale Ambitionen“ vor. Das Militärbündnis versuche, durch den Ukraine-Konflikt seine „Vormachtstellung“ zu behaupten, sagte Putin am Mittwoch in der turkmenischen Hauptstadt Aschchabad. „Die Ukraine und das Wohlergehen der ukrainischen Bevölkerung sind nicht das Ziel des kollektiven Westens und der NATO, sondern ein Mittel zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen.“

Mit dem geplanten NATO-Beitritt von Finnland und Schweden habe Russland „kein Problem“, sagte Putin. „Wir haben mit Schweden und Finnland keine Probleme, wie wir sie mit der Ukraine haben.“ Es gebe mit den beiden Ländern keine „territorialen Differenzen“, sagte Putin. „Es gibt nichts, was uns mit Blick auf eine Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der NATO Sorgen machen würde. Wenn sie wollen – bitte.“

Die Länder müssten sich aber im Fall einer Bedrohung Russlands auf eine Reaktion gefasst machen. „Sie müssen sich klar und deutlich vorstellen, dass es für sie früher keine Bedrohungen gab – aber werden dort jetzt Truppen stationiert und Infrastruktur eingerichtet, so werden wir gespiegelt antworten müssen und dieselben Bedrohungen für das Territorium schaffen, von dem aus wir bedroht werden“, wurde Putin von der Nachrichtenagentur TASS zitiert. „Alles war gut zwischen uns, aber jetzt wird es irgendwelche Spannungen geben – das ist offensichtlich, zweifelsfrei, ohne geht es nicht.“

Neues strategisches Konzept

Mit dem neuen strategischen Konzept stellen die NATO-Partner ihre politischen und militärischen Planungen auf eine neue Grundlage. Es ersetzt die vorherige Version aus dem Jahr 2010. Damals hatten die Alliierten noch gehofft, dass die Zeit der großen Spannungen mit Russland vorbei sei, und auf eine „echte strategische Partnerschaft“ mit dem Land gesetzt.

Im neuen Konzept heißt es nun: „Angesichts ihrer feindseligen Politik und Handlungen können wir die Russische Föderation nicht als unseren Partner betrachten.“ Die Beziehungen könnten sich erst dann wieder ändern, wenn Russland sein aggressives Verhalten einstelle und das Völkerrecht in vollem Umfang einhalte. Man bleibe jedoch bereit, die Kommunikationskanäle mit Moskau offenzuhalten.

Selenskyj: „Wer ist der Nächste für Russland?“

Wie auch bei den Gipfeln der EU und der G-7 wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video zum Gipfel zugeschaltet. Er warnte vor möglichen russischen Angriffen auch auf andere Länder. „Die Frage ist: Wer ist der Nächste für Russland? Moldawien? Das Baltikum? Oder Polen? Die Antwort: sie alle“, sagte Selenskyj. Das wahre Ziel Russlands sei die NATO. Dazu setze Moskau als Instrument auch Hunger zur Verursachung von Migrationswellen ein.

Die NATO sagte der Ukraine sichere Kommunikationsmittel, Treibstoff, medizinische Versorgung, Schutzwesten und Ausrüstung zur Bekämpfung von Minen sowie chemischen und biologischen Bedrohungen zu. Auch Hunderte tragbare Drohnenabwehrsysteme sind Teil eines Unterstützungspakets.

Zum Abschluss des Gipfels in Madrid steht am Donnerstag der Kampf gegen Terrorismus im Fokus. Dabei soll es vor allem um die Herausforderungen gehen, die von Gebieten südlich der Allianz ausgehen. Zudem stehen die durch den Krieg ausgelöste Lebensmittelkrise und der zunehmende Einfluss Russlands und Chinas zum Beispiel auf Afrika auf der Tagesordnung. Vor allem Gastgeber Spanien hatte darauf gedrungen, sich bei dem zweitägigen Gipfel mit der südlichen Nachbarschaft zu befassen.