Schlangeninsel
Reuters/Ukraine Operational Command South
Schlangeninsel

Russischer Rückzug mit unklaren Folgen

Die russischen Streitkräfte haben am Donnerstag die Schlangeninsel geräumt. Die Aufgabe des strategisch wichtigen Postens gilt als Erfolg für die Ukraine. Was hinter dem russischen Rückzug steht, ist allerdings nicht völlig klar. Ebenso ist offen, welche Folgen der russische Rückzug – auch für mögliche Getreidelieferungen – hat.

Die Darstellungen der beiden Konfliktparteien gehen wie so oft seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine jedenfalls merklich auseinander. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die eigenen Truppen hätten sich als „Geste des guten Willens“ zurückgezogen. Der Rückzug ziele darauf ab, der Welt zu zeigen, dass „Russland die Bemühungen der Vereinten Nationen, einen humanitären Korridor für die Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus der Ukraine zu organisieren, nicht behindert“, sagte Verteidigungsminister Igor Konaschenkow.

Die Ukraine erklärte wiederum, sie habe die russischen Streitkräfte mit einem verstärkten Artillerieeinsatz und einem Angriff in der Nacht vertrieben. „KABOOM!“, twitterte Andriy Yermak, der Stabschef des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. „Keine russischen Truppen mehr auf der Schlangeninsel. Unsere Streitkräfte haben einen großartigen Job gemacht.“ Die letzten verbliebenen russischen Soldaten hätten mit zwei Schnellbooten die Insel verlassen.

12-Meilen-Zonen (rot) und ausschließliche Wirtschaftszonen (schwarz) der Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres

Strategischer Ort mit Symbolcharakter

Bereits am ersten Tag des Krieges war der kahle Felsbrocken rund 100 Kilometer südlich der Hafenstadt Odessa zu einem symbolischen Ort geworden. Dort stationierte ukrainische Soldaten erklärten unter Verwendung von Kraftausdrücken dem – inzwischen gesunkenen – russischen Flaggschiff „Moskwa“ per Funk, sie würden sich nicht ergeben. Das Bild des widerständigen Soldaten auf der Schlangeninsel wurde zu einem der wichtigsten Symbole der ukrainischen Verteidigung. Die ukrainische Post gab eine Briefmarke heraus, auf der ein ukrainischer Soldat der „Moskwa“ den Mittelfinger zeigt.

Russland zieht von Schlangeninsel ab

Russland hat im Ukraine-Krieg seine Truppen von der Schlangeninsel abgezogen. Die Insel liegt im Schwarzen Meer und ist strategisch bedeutsam. Der Kreml spricht von einer „Geste des guten Willens“, Kiew hingegen sieht einen militärischen Erfolg der eigenen Soldaten.

Die Russen nahmen die Schlangeninsel freilich dennoch bereits gleich zu Beginn der Offensive ein – und sicherten sich damit eine Basis, um den Seeweg nach Odessa zu kontrollieren. Die Ukraine versuchte seither immer wieder, den strategisch wichtigen Außenpunkt zurückzuerobern. Nach über vier Monaten dürfte ihnen das nun gelungen sein. Wohl auch mit Hilfe neuer, vom Westen gelieferter Waffen.

Weg frei für Getreidelieferungen?

Rob Lee, ein leitender Mitarbeiter des US-amerikanischen Foreign Policy Research Institute, schrieb auf Twitter, die Aufgabe der Insel durch Russland sei „wahrscheinlich ein greifbares Ergebnis der NATO-Waffenlieferungen an die Ukraine“. Laut dem Analysten könnte der Rückzug nun auch „die Tür für ukrainische Getreideexporte aus Odessa öffnen“.

Oleg Schdanow, ein in Kiew ansässiger Militäranalyst, sagte gegenüber Reuters hingegen, dass die Vertreibung der Russen von der Schlangeninsel allein nicht ausreichen würde, um die Blockaden der ukrainischen Häfen zu beenden. Aber es würde Russlands Kontrolle über das Meer verringern: „Dies ist ein großer Sieg in dem Sinne, dass wir die Dominanz der Schwarzmeer-Flotte aufheben“, sagte er.

Stockende Verhandlungen

Die Aufhebung der Blockade ukrainischer Häfen durch das russische Militär gilt als eines der strategischen Ziele des Westens: US-Außenminister Antony Blinken hat Russland vorgeworfen, den Hunger in der Welt absichtlich herbeizuführen, als „Erpressung“. Moskau streitet die Verantwortung für die Nahrungsmittelknappheit allerdings ab und macht westliche Sanktionen verantwortlich. Diese würden russische Exporte einschränken – wenngleich Nahrungsmittel explizit von den Sanktionen ausgenommen sind.

Minenwarnschild auf einem Strand in Odessa
AP/CTK/Pavel Nemecek
Die Ukraine hat ihre Küstengewässer als Schutz vor einem russischen Angriff vermint

Russland wollte den Rückzug nun jedenfalls als Zeichen verstanden wissen, dass man Getreidelieferungen aus der Ukraine nicht im Weg stehe. Zugleich forderte Moskau von der Ukraine aber einmal mehr ein, die Gewässer von Minen zu räumen. Kiew lehnte das bisher ab. Russland könnte die Beseitigung der Minen für einen Angriff auf Odessa nutzen, so die Befürchtung. Von der Türkei initiierte Gespräche zwischen den Konfliktparteien verliefen bisher ergebnislos.

Russland bringt Getreide aus Ukraine

Während Getreidelieferungen aus den ukrainischen Häfen weiterhin auf sich warten lassen, lief am Donnerstag aus dem von Russland besetzten Hafen von Berdjansk ein Schiff mit 7.000 Tonnen Getreide an Bord aus. Die von Russland ernannte Verwaltung teilte mit, das Schiff werde von der russischen Marine begleitet. Die Getreidelieferung sei auf dem Weg „in befreundete Staaten“.

Zugleich sollen laut ukrainischen Angaben bei einem russischen Angriff im Osten der Ukraine große Mengen an Getreide vernichtet worden sein. In dem betroffenen Lagerhaus in der Stadt Selenodolsk sei ein Feuer ausgebrochen, schrieb der Gouverneur des Gebiets Dnipropetrowsk, Walentyn Resnitschenko, am Donnerstag im Nachrichtendienst Telegram. 40 Tonnen Getreide seien vernichtet worden. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben nicht.

Heftige Kämpfe im Osten

Russland setzte auch am Donnerstag die Bombardierung ukrainischer Städte fort. Bei einem Raketenangriff in der Stadt Mykolajiw im Süden des Landes wurden nach Angaben Kiews fünf Menschen getötet. Der Gouverneur der ostukrainischen Region Luhansk, Serhij Hajdaj, berichtete von heftigen russischen Angriffen auf die Stadt Lyssytschansk im Donbas.

Die ukrainischen Behörden erklärten, sie versuchten, die verbliebenen Einwohner von Lyssytschansk zu evakuieren, wo sich nach ihrer Einschätzung noch etwa 15.000 Menschen aufhalten. „Die Kämpfe gehen unaufhörlich weiter. Die Russen sind ständig in der Offensive. Es gibt keine Pause“, sagte Hajdaj im ukrainischen Fernsehen.

Ein Beamter der prorussischen Separatistenverwaltung in der Provinz erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur RIA, die Ölraffinerie von Lyssytschansk werde nun vollständig von russischen und prorussischen Kräften kontrolliert, und auch alle Straßen nach Lyssytschansk seien unter ihrer Kontrolle. Nach ukrainischen Angaben ist die Hauptausgangsstraße wegen der Kämpfe weitgehend unpassierbar. Die Stadt sei aber noch nicht abgeschnitten.

Weitere Waffenlieferungen

Mehrere westliche Länder kündigten unterdessen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine an. Großbritannien will dem Land weitere militärische Unterstützung im Wert von rund 1,15 Milliarden Euro zukommen lassen. Damit solle die ukrainische Verteidigungsfähigkeit gestärkt werden, unter anderem durch Luftabwehrsysteme, unbemannte Flugkörper und elektronische Ausrüstung. Der Wert der britischen Militärunterstützung für die Ukraine steigt damit in diesem Jahr auf 3,8 Milliarden Pfund.

Frankreich wird der Ukraine nach den Worten von Präsident Emmanuel Macron weitere sechs Artilleriegeschütze vom Typ Caesar bereitstellen. Schweden will weitere Panzerabwehrwaffen und Maschinengewehre an die Ukraine liefern.