Filmszene aus Corsage
Alamode Film/Ricardo Vaz Palma
„Corsage“

Mit neuer Sisi durchs Schicksalsjahr

Jede Ära bekommt die Elisabeth, die sie verdient. In ihrem in Cannes prämierten Film „Corsage“ erfindet Regisseurin Marie Kreutzer die Kaiserin als Frau neu, die sich innerhalb der Zwänge des Hofzeremoniells ihren engen Handlungsspielraum erkämpfen musste – und die nach einer Chance zum Ausbruch sucht.

Eine volle Minute und elf Sekunden kann sie die Luft anhalten, in ihrer goldenen Badewanne. 46 Zentimeter misst ihre Taille, wenn sie geschnürt ist. Zahlen helfen: Sie sind kleine messbare Erfolge, die sie mit Selbstüberwindung erringt, Siege über ihren eigenen Körper. Ein anderes Schlachtfeld hat die Kaiserin nicht zur Verfügung, im Gegensatz zu ihrem Ehemann. Sie hat schön zu sein, sie hat fromm zu sein, sie hat den Erwartungen an ihre Erscheinung und ihr Verhalten zu genügen. Das ist alles.

Sie zählt auch die Tage, die sie auf ungarischem Boden verbringt, es sind die glücklichen Tage, an denen sie mit der kleinen Tochter Ungarisch sprechen kann, ohne dass sich jemand beschwert, denn Sprache ist politisch. Es sind Tage, an denen sie durch den Schlamm reiten kann, durchatmen, Schönbrunn vergessen. In „Corsage“ spielt Vicky Krieps („Der seidene Faden“) Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn als Frau, die an der Seite von Kaiser Franz Joseph I. zu einer Hülle ihrer selbst erstarrt ist.

„Schön soll sie bleiben“

Man schreibt das Jahr 1877, an Heiligabend wird Elisabeth ihren vierzigsten Geburtstag feiern. Sie, die für ihre jugendliche Schönheit, ihre schmale Silhouette, ihre großgewachsene Gestalt berühmt ist, muss beginnen, sich mit ihrem Älterwerden auseinanderzusetzen. Selbst der Ministerpräsident spricht sie auf ihr Gewicht an, und dass sie sich so selten in Wien blicken lässt.

Kreutzers vom ORF im Rahmen des Film/Fernseh-Abkommens gefördertes Projekt ist ein Spielfilm, wie es noch keinen gegeben hat, über jene Kaiserin, die mehr als 120 Jahre nach ihrem Tod immer noch enorme Faszination ausübt. Ob die Versteigerung von Leibwäsche durch ein bayrisches Auktionshaus, ob eine nicht ganz ernst gemeinte Sisi-Krimireihe von Thomas Brezina, unzählige Dokumentarfilme und gleich drei Serien – die Anlässe, die Elisabeth zum Gegenstand öffentlichen Interesses machen, sind noch immer mannigfaltig.

Anders als die meisten anderen Projekte, die sich größtenteils mit der jugendlichen Kaiserin befassen, setzt Kreutzers Film dort an, wo Ernst Marischkas „Sissi“-Filme längst geendet haben. „Corsage“ schildert die Kaiserin in jener Lebensphase, in der ihre jugendliche Schönheit abklingt. „Hoch soll sie leben, schön soll sie bleiben“, wird ihr zum Geburtstag gesungen, aber das mit der Schönheit ist nicht mehr so wichtig. „Hauptsache, wir hinterlassen ein hübsches Bild“, sagt sie irgendwann, meint das aber nicht mehr ernst.

Die unsichtbare Kaiserin

Elisabeth hat zu diesem Zeitpunkt längst begonnen, sich zu verschleiern. Sie schickt den Porträtmaler weg, er solle sich besser an Jugendporträts orientieren, erlaubt keine Fotos, zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück. Kreutzer findet für diese Ablehnung von Abbildungen, zugleich aber für das Interesse an neuen Entwicklungen ein vielleicht etwas thesenhaftes Sinnbild, eine kleine Filmtechnik-Liebeserklärung. Ein junger Mann bringt da eine neu erfundene Filmkamera zur Kaiserin. Elisabeth reagiert humorvoll, als er sagt, „der Film wird die Malerei ablösen!“

Filmszene aus Corsage
Robert Brandstätter
Kaiserin mit engem Handlungsspielraum (Vicky Krieps)

Es ist einer jener pointierten Anachronismen und Surrealismen, mit denen der ganze Film gesprenkelt ist. Historische Genauigkeit strebt Kreutzer nicht an. Wenn da steht „Wien, Österreich, Juli 1878“ ist das reine Behauptung. Innere Wahrheit ist das Ziel, und die erreicht der Film auch mit dem Durchkreuzen von Erwartungen. Da sind die rosaroten Zigaretten, die Elisabeth heimlich raucht, da ist der nur aufgeklebte Backenbart des Kaisers, da lehnt gelegentlich vor dem kaiserlichen Schlafzimmer ein türkiser Plastikwischmop an der Wand.

Dann ist da auch die Musik der Französin Camille und vor allem die betörende Neuerfindung der kaiserlichen Garderobe durch Kostümbildnerin Monika Buttinger – all die Pelzkragen, Perlhuhnfedern, kleinen Täschchen und Hüte. Elisabeths Kleidung spielt eine bedeutsame Rolle, nicht nur als dekoratives Element, sondern auch als Stütze, als Verkleidung, als Begrenzung eines Körpers, der sein Erwachsenenleben lang einem strengen Hofzeremoniell gehorchen muss.

Traurig geschnürt

Am bestimmendsten ist das titelgebende, eigens entwickelte Korsett, das Krieps in fast jeder Szene tragen musste. „Das war extrem schmerzhaft und auch grenzwertig“, so Krieps gegenüber ORF.at. „Mit einem Korsett zu fechten und zu reiten, ist unglaublich anstrengend, man kann da die Bauchmuskeln nicht benutzen, braucht sie aber eigentlich.“ Sie habe sich dieser Strapaz aber freiwillig ausgesetzt: „Dieses Korsett steht symbolisch für all diese körperlichen und geistigen Zwänge, die mit dem gesellschaftlichen Dasein als Frau verbunden sind. Ich wollte diese Zwänge zeigen.“

Filmszene aus Corsage
Alamode Film/Robert Brandstätter
Reiten, fechten, wandern: Im Korsett ist alles eine Zumutung

Das Tragen des Korsetts hatte aber nicht nur körperliche Auswirkungen, so Krieps. „Ich habe festgestellt, dass mich, wenn ich das Korsett trug, schon nach kurzer Zeit ein Gefühl von Melancholie und Traurigkeit befiel. Wenn ich es ausgezogen hatte, löste sich dieses Gefühl wieder auf.“ Beim Einschnüren, so Krieps, werde das Zwerchfell eingeengt, „und daran sind viele Nerven festgemacht, das hat viel mit unserem emotionalen Wohlbefinden zu tun“.

„Da stimmt doch etwas nicht“

„Corsage“ schildert eine überhöhte Version der Kaiserin, vielleicht so, wie sie es sich selbst in Träumen oder Alpträumen vorgestellt hat, und verpackt die gewaltige persönliche Entwicklung, die die historische Elisabeth zwischen dem 35. und 60. Lebensjahr durchlaufen hat, in ein einziges Jahr rund um den vierzigsten Geburtstag der Kaiserin. Die Idee zu diesem Film hatte ursprünglich die Hauptdarstellerin Krieps selbst, die seit ihrer Kindheit die „Sissi“-Filme kannte.

Krieps hatte in der berühmten Elisabeth-Biografie „Kaiserin wider Willen“ von Brigitte Hamann vergebens nach einer Antwort darauf gesucht, warum sich die Kaiserin in ihren späteren Lebensjahren so konsequent zurückgezogen hatte. „Ich dachte mir, irgendetwas stimmt doch da nicht“, so Krieps, die diesen Gedanken Kreutzer erzählt hatte.

„Corsage“ findet darauf nun eine unerhörte Antwort in einem Film, in dem es vor allem um das Geliebtwerdenwollen geht, um Vergänglichkeit und um ein unbändiges Freiheitsbedürfnis. Es ist, vielleicht, eine späte Gerechtigkeit für die süßliche Verklärung der Marischka-„Sissi“. In Cannes wurde Krieps für ihre Leistung als beste Schauspielerin in der Schiene „Un Certain Regard“ ausgezeichnet.