Ukrainische Militärs auf einem Transporter
Reuters/Gleb Garanich
Nach Luhansk

Front im Süden gewinnt an Bedeutung

Mit der Einnahme von Lyssytschansk und damit praktisch der gesamten Region Luhansk haben die russischen Truppen in der Ukraine einen Zwischenerfolg erzielt – allerdings sehr lange dafür gebraucht und auch einen hohen Preis bezahlt. Dass nun die verbleibenden ukrainischen Städte im Oblast Donezk ins Visier genommen werden, gilt als logisch. Doch die Ukraine könnte mit ihrer Gegenoffensive im Süden die russischen Pläne durchkreuzen.

Nun wird erwartet, dass die russischen Truppen ihren Feldzug Richtung Westen in der Oblast Donezk fortsetzen – mit den Zielen Kramatorsk, Bachmut und Slowjansk. Der Raum Slowjansk/Kramatorsk ist der größte Ballungsraum im Donbas, der noch unter Kontrolle Kiews steht. Slowjansk ist auch das Zentrum der ukrainischen Verteidigungskräfte im Donbas.

Doch ist nun unklar, wie schnell es weitergehen soll. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte, russische Soldaten, die an der Eroberung von Luhansk beteiligt waren, sollten sich nun erst einmal „ausruhen“, um Kräfte für weitere Kämpfe zu sammeln. Das gilt als Indiz dafür, dass sich die russischen Truppen neu organisieren müssen – und dass die wochenlange Schlacht um die Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk auch bei den russischen Truppen viele Opfer gefordert hat.

Verschnaufpause für beide Seiten

Allerdings tobten auch in den vergangenen Tagen schwere Kämpfe an den Frontabschnitten in Donezk. Zudem verstärkten die russischen Truppen zuletzt den Artilleriebeschuss auf Slowjansk. Unklar ist aber, wann auf das Dauerfeuer tatsächlich auch Gebietsgewinne folgen. Denn bisher konnten die ukrainischen Truppen die russischen Vorstöße abwehren.

Zerstörte Gebäude in Slowjansk
APA/AFP/Miguel Medina
Slowjansk meldete in den vergangenen Tagen schweren Artilleriebeschuss

Der Sieg in Lyssytschansk sei für die russische Seite vor allem wichtig gewesen, um das Narrativ zu erheben, die Dynamik im Krieg sei jetzt auf der Seite Russlands, schreibt der britische Militärhistoriker Lawrence Freedman. Je länger man jetzt aber zuwarte, desto eher schwinde diese Dynamik aber wieder.

Zudem gibt es der Ukraine Zeit, sich nach den schweren Kämpfen und hohen Verlusten ebenfalls neu aufzustellen – möglicherweise auch mit neu eingetroffenen Waffensystemen. Schon jetzt häuften sich zuletzt Berichte, wonach Munitionslager in russischen besetzten Gebieten getroffen wurden. Vermutet wird, dass dabei die Mehrfachraketenwerfer HIMARS eingesetzt wurden, von denen die Ukraine zuletzt vier Systeme von den USA erhalten hatte. Russland behauptete, zwei Raketenwerfer zerstört zu haben.

Russischer Ultranationalist mit scharfer Kritik

Militärexperte Freedman verweist, wie auch der US-Thinktank Institute for the Study of War mehrmals in den täglichen Lageanalysen, auf Ausführungen von Igor Girkin, Kampfname Strelkow, dem ehemaligen militärischen Anführer der „Volksrepublik“ Donezk. Der Ex-Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB gilt als Ultranationalist – und kritisiert den Kreml seit Beginn des Kriegs, mit zu gelinden Mitteln und falscher Strategie in der Ukraine vorzugehen.

Er meinte auf Telegram, dass die russischen Streitkräfte einen zu hohen Preis für einen begrenzten Gewinn in Lyssytschansk gezahlt hätten. Nun sei das „Offensivpotenzial“ der dort kämpfenden Einheiten erschöpft. Ohne frische Reserven und Nachschub an Waffen seien keine nennenswerten Gebietsgewinne mehr zu erwarten, prognostizierte er – und plädierte erneut für eine Generalmobilmachung in Russland.

Zerstörte Gebäude im Donbas
Reuters/Gleb Garanich
Die Kämpfe im Donbas gehen nun im Oblast Donezk weiter

Gegenoffensive bei Cherson nimmt Fahrt auf

Und bereits Ende Mai hatte Girkin vor einer Schwachstelle im Süden gewarnt, die nun tatsächlich den Kriegsverlauf verändern könnte. Er befürchtet eine Gegenoffensive, die sich eben vor allem gegen Stellungen richtet, die von Reservisten gehalten werden, allen voran die Stadt Cherson. Diese Gegenoffensive der Ukraine hatte in den vergangenen Tagen tatsächlich mehr Fahrt aufgenommen. NASA-Bilder, die Brände abbilden, zeigen einen deutlichen Anstieg der Gefechte an dieser Front.

Auch andere Militärexperten verweisen darauf, dass die Ukraine hier die Gunst der Stunde nutzen könnte. Die ukrainischen Truppen seien zuletzt schon sehr nah an die von Russland besetzte Stadt Cherson herangekommen.

Russland muss Truppen ausbalancieren

Der australische Ex-General und Militärexperte Mick Ryan schreibt für den „Sidney Morning Herald“ und auf Twitter, dass Russland sich quasi in einem Dilemma befinde: Es müsse sich entscheiden, wie man die Truppen im Süden und im Osten ausbalanciere. Entweder man konzentriert sich auf den weiteren Vormarsch in den verbliebenen Donbas-Gebieten – oder man verstärkt die Verteidigung im Süden. Dass die russische Armee mit mehreren Fronten eher Probleme hat, konnte man in den ersten Wochen des Krieges beobachten.

Auch der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch sprach das in einer Videobotschaft zuletzt ganz offen aus: Die Einnahme der beiden letzten Städte in der Region Luhansk bedeute, dass 60 Prozent der russischen Streitkräfte im Osten gebunden seien und es für Russland schwierig sei, sie in den Süden zu verlegen, so Arestowytsch.

Sabotageakte in besetzten Gebieten

Ob eine Gegenoffensive im Süden des Landes möglich sei, hänge auch von den zugesagten westlichen Waffenlieferungen ab, mit denen die Schlagkraft der ukrainischen Streitkräfte erheblich erhöht werden soll. Für die Ukraine geht es bei der Front im Süden auch – wenn auch erst in weiterer Folge – wieder um den Zugang zum Meer.

Ryan wie auch das Institute for the Study of War führen zudem ins Treffen, dass in den von Russland besetzten Gebieten im Süden zuletzt immer wieder Sobotageaktionen bekanntwurden. So wie eine Eisenbahnbrücke zwischen Melitopol and Tokmak, um den russischen Nachschub zu stören. Ein Zug mit Munition sei vor wenigen Tagen nahe Melitopol zum Entgleisen gebracht worden.

Gegenangriff mit welchen Mitteln?

Völlig offen ist allerdings, mit welcher Strategie die Ukraine vorgeht, wenn sie in der Offensive Gebiete zurückerobern will. Russland zu imitieren und zunächst mit Artillerie alles in Schutt und Asche zu schießen, werde es wohl nicht sein, meint Militärexperte Freedman. Cherson sei bereits in Artillerieschussweite der ukrainischen Truppen, aber logischerweise will man Stadt und Bevölkerung verschonen. Die Angriffe müssten also sehr gezielt gegen die russischen Besatzer gerichtet sein – und das sei wohl keine ganz leichte Aufgabe für die ukrainische Armee, die bisher fast nur in der Rolle der Verteidiger war.