Boris Johnson
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Johnson vor Rücktritt

Nach einer offenen Revolte gegen ihn tritt der britische Premierminister Boris Johnson laut Medienberichten noch am Donnerstag als Parteichef der Konservativen zurück. Johnson wolle aber noch bis Herbst Regierungschef bleiben, meldete der britische Sender BBC.

Wer neuer britischer Premier wird, soll den Angaben zufolge „rechtzeitig bis zum Parteitag der Torys im Oktober feststehen“. Ob bzw. wie lange sich Johnson noch als Premier halten kann, bleibt fraglich. Medienberichten zufolge werde sich Johnson nach dem Exodus in seinem Regierungsapparat dem Unausweichlichen beugen. Rücktrittsankündigungen gingen zuletzt praktisch im Minutentakt ein. Ohne seine Mitarbeiter erschien der schon länger isolierte Johnson zunehmend machtlos.

Seit Dienstagabend traten mehr als 50 Minister, Staatssekretäre und andere Regierungsvertreter aus Protest gegen Johnson zurück. Johnsons Büro in Downing Street 10 kündigt eine Ansprache des Premierministers an. Er werde sich im Laufe des Tages an die Nation wenden. Medienberichten zufolge habe Johnson bereits mit der Queen gesprochen. Die Unterredung sei ein Zeichen der Höflichkeit gegenüber der Monarchin im Vorfeld seiner bevorstehenden Rede über seinen Rücktrittsplan, hieß es im TV-Sender ITV.

Medien vor der Downing Street 10
AP/Alberto Pezzali
Medienvertreter nehmen in der Downing Street Stellung und warten auf Johnsons Statement

Neubesetzungen vor anstehender Rede

Kurz vor seinem erwarteten Rücktritt besetzte Johnson noch mehrere Kabinettsposten neu. Dpa-Angaben zufolge will Johnson mit den Neubesetzungen versuchen, seinen Verbleib als Übergangspremier zu sichern. Seine langjährigen Vertrauten James Cleverly und Christopher Laurie Malthouse beauftragte er mit der Leitung des Bildungsministeriums beziehungsweise der zentralen Regierungsbehörde Cabinet Office.

Den früheren Wirtschaftsminister Greg Clark ernannte Johnson zum Leiter des Ressorts „Levelling Up“, also Angleichung der Lebensverhältnisse. Der ehemalige Justizminister Robert Buckland, den Johnson erst im September 2021 feuerte, ist nun Staatsminister für Wales.

Causa Pincher brachte Fass zum Überlaufen

Nachdem die Liste der zurückgetretenden Regierungsmitglieder auch am Donnerstag immer länger geworden war, hatte auch der erst vor weniger als zwei Tagen ernannte neue Finanzminister Nadhim Zahawi Johnson zum Rücktritt aufgefordert. Dieser hatte trotz der Rücktrittswelle noch am Mittwoch erklärt, er wolle im Amt bleiben.

Johnson war nach einem erdrutschartigen Wahlsieg 2019 Chef der Konservativen und damit Premierminister geworden. Die anfängliche Popularität des ehemaligen Journalisten und Bürgermeisters von London wurde jedoch bald geschmälert durch Kritik an seinem betont kämpferischen und von Gegnern oft als chaotisch empfundenen Regierungsstil. Immer wieder wurden Rücktrittsforderungen laut.

Das Fass zum Überlaufen brachte zuletzt sein Umgang mit der Affäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Johnson hatte sich im Fernsehen dafür entschuldigt, dass die Öffentlichkeit über seinen Wissensstand in dem Fall falsch informiert worden sei.

„Gehen Sie jetzt“

Wie Medien am Mittwochabend berichteten, habe eine Delegation aus mehreren Kabinettsmitgliedern dem konservativen Premierminister noch am Abend im Regierungssitz Downing Street 10 den Rücktritt nahegelegt. Darunter war den Berichten zufolge auch Neo-Finanzminister Zahawi, mit dem Johnson an sich am Donnerstag einen neuen Wirtschaftsplan vorstellen wollte.

Zahawis Vorgänger Rishi Sunak hatte nur Stunden zuvor das Amt aus Protest gegen Johnsons Führungsstil niedergelegt. Auch Verkehrsminister Grant Shapps soll sich dem Aufruf angeschlossen haben. In der Folge habe sich Berichten zufolge auch Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng von Johnson abgewandt. Bauminister Michael Gove wurde von Johnson aus dem Kabinett entlassen.

Am Donnerstag erklärte zunächst der Nordirland-Minister Brandon Lewis seinen Rücktritt. Es folgten die Staatssekretäre Damian Hinds, Helen Whately, George Freeman, Guy Opperman, Chris Philp, James Cartlidge und Michelle Donelan. Schließlich rief auch Zahawi Johnson öffentlich zum Rücktritt auf. „Premierminister, in Ihrem Herzen wissen Sie, was das Richtige ist. Gehen Sie jetzt“, schrieb Zahawi in einem auf Twitter veröffentlichten Brief an Johnson.

Rufe nach sofortigem Rücktritt auch als Premier

Verteidigungsminister Ben Wallace forderte indes seine Parteikollegen auf, Johnson aus dem Amt zu drängen. „Die Partei hat ein Verfahren, die Führungsspitze auszutauschen, das die Kollegen anwenden sollten“, schrieb Wallace in einem Tweet. Er erklärte zudem, er werde zur Sicherung Großbritanniens im Amt bleiben. Ein neuer Vorsitzender der Konservativen Partei müsse so schnell wie möglich gefunden werden, forderte auch Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng: „In der Zwischenzeit müssen die Räder der Regierung weiterlaufen.“

„Johnson soll jetzt aufhören und einen geschäftsführenden Premierminister einsetzen“, zitierte der „Guardian“ dazu passend in der Früh Staatssekretär Freeman. Die Forderung nach einem sofortigen Rücktritt kam auch aus Schottland: Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon sagte, sie halte es für „nicht tragbar“, dass Johnson noch bis Herbst Premierminister bleiben will.

Auch die stellvertretende Vorsitzende des einflussreichen 1922-Ausschusses der Tory-Abgeordneten, Nus Ghani, spricht sich „Guardian“-Angaben zufolge für eine sofortige Ablöse von Johnson als Premierminister aus. Den Angaben zufolge stellt Ghani Vizepremier Dominic Raab als Übergangspremier in den Raum. Als mögliche Johnson-Nachfolgerin gilt auch Außenministerin Liz Truss. Diese brach Medienberichten zufolge ihre Reise zum G-20-Gipfel nach Indonesien ab.

Geht es nach dem Meinungsforschungsinstitut YouGoV, habe derzeit Verteidigungsminister Wallace die besten Karten für die Übernahme der Torys und damit auch den Posten des Regierungschefs. Angesichts der aktuellen Mehrheitsverhältnisse im britischen Parlament ist der jeweilige Chef der Konservativen automatisch auch Premierminister.

Misstrauensvotum nur knapp überstanden

Johnsons Regierung und seine Konservative Partei wurden in den vergangenen Monaten von einer ganzen Reihe von Affären erschüttert. Neben einer Spendenaffäre und Skandalen um übergriffige Parteikollegen wog besonders der Skandal um Partys am Regierungssitz während des Coronavirus-Lockdowns schwer.

Anfang Juni überstand Johnson nur knapp ein parteiinternes Misstrauensvotum. Ein einflussreicher Ausschuss namens 1922 Committee aus Tory-Abgeordneten ohne Ministerrang könnte die Parteiregeln Berichten zufolge kommende Woche ändern und den Weg für ein zweites Misstrauensvotum frei machen.

Oppositionschef Starmer sprach mit Blick auf Johnsons angekündigten Rücktritt als Parteichef der Konservativen von einer „guten Nachricht“. Was das Land jetzt brauche, sei aber „kein Wechsel an der Spitze der Torys. Wir brauchen einen echten Regierungswechsel“, forderte der Labour-Politiker.