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Südkorea

Mit Fantasienamen gegen Firmenhierarchien

In kaum einem anderen Land hat ein derart starkes soziales Hierarchiegeflecht auch so viel Einfluss auf die Kommunikation wie in Südkorea. Je nach Position gibt es eine andere Anredeformel, in Unternehmen tragen jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin zudem einen Funktionstitel. Weil das Innovationen in Unternehmen schwierig macht, begann man in Start-ups, sich mit erfundenen englischen Vornamen anzusprechen. Und das macht jetzt Schule.

Berufliche und soziale Stellung, aber vor allem das Alter definieren, wer in der südkoreanischen Gesellschaft wie anzusprechen ist. Diese Hierarchieebenen spiegeln sich auch in der Sprache wider, es gibt mehrere unterschiedliche Formen der Anrede mit unterschiedlichen Niveaus von Höflichkeit je nach Gesprächspartner. In Unternehmen ist es zusätzlich noch üblich, das Gegenüber mit seiner Funktion anzusprechen.

Die Sprache ist nur ein Spiegel der strengen Hierarchien, die die südkoreanische Unternehmenswelt dominieren. Und lange Zeit war diese Ordnung auch produktiv, was erfolgreiche südkoreanische Unternehmen von Samsung bis Hyundai bewiesen.

Willkür von Vorgesetzten

Doch umgekehrt wurde in den vergangenen Jahren auch immer klarer, was diese Hierarchien verhindern. Laut Umfragen traut sich ein Großteil der Angestellten in Meetings, keine Kritik zu äußern – plus alles, was als Kritik verstanden werden kann. Und ohne Kritik kein Fortschritt. Zudem gilt die südkoreanische Arbeitswelt als besonders toxisch, nicht nur wegen exorbitanter Überstunden.

Vielfach sind Angestellte der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgesetzt, mit „Gapjil“ gibt es das geflügelte koreanische Wort für diese Missstände. Diese reichen von angeordneten Überstunden an Wochenenden über obligatorische Trinkexzesse bis zu physischen und sexuellen Übergriffen. Mit der Rückkehr von Angestellten nach der Pandemiepause aus dem Homeoffice in die Büros wurde das Problem erneut deutlicher, wie etwa zuletzt CNN berichtete.

Nussaffäre als Höhepunkt

Als plakativstes Beispiel gilt die Nussaffäre von 2014. Cho Hyun Ah, die Tochter des Chefs von Korean Air, war in einer Maschine der Fluglinie in Rage geraten, als ihr eine Flugbegleiterin Macadamianüsse in einem Sackerl und nicht in einer Schale reichte.

Es kam zu einem Streit. Cho ließ den Chefsteward kurz vor dem Start von Bord werfen, weshalb die Maschine auf dem Rollfeld in New York unmittelbar vor dem Start umkehren musste. 2015 wurde Cho zu einem Jahr Haft verurteilt, die Affäre gilt als gesellschaftlicher Wendepunkt in Südkorea.

Im Büro ein „anderer Mensch“

Start-up-Unternehmen haben schon vor einigen Jahren begonnen, Ideen gegen die traditionelle Arbeitskultur im Land zu entwickeln. Man stehe in Konkurrenz mit Start-ups im Westen – und die strengen Hierarchien seien da ein Wettbewerbsnachteil, heißt es. Und sie versuchten unter anderem, das Problem mit einem Trick zu lösen. Die üblichen Anredeformen wurden abgeschafft, stattdessen wählen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen englischen Vornamen für sich. Und so diskutieren in Meetings dann nicht Chef, Abteilungsleiter und „kleine“ Angestellte miteinander, sondern John, Hannah und Brian.

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Mit flachen Hierarchien wollen Unternehmen innovativer werden

Im US-Sender NPR berichteten unlängst Betroffene, dass sie so etwas wie eine Arbeitsidentität entwickeln, also im Büro in eine völlig andere Rolle schlüpfen, die sie nach einem Arbeitstag wieder ablegen.

Auch Konzerne schwenken um

Mittlerweile schwenken auch die großen Konzerne auf diese Strategie um. Vor einigen Monaten führte die SK Group, einer der größten Mischkonzerne des Landes, auch die neuen Namensvarianten ein. Firmenchef Chey Tae Won verkündete laut „Korea Times“ in Zukunft von allen „Tony“ genannt werden zu wollen. Bei Samsung wollen unterdessen Vizekonzernchef Han Jong Hee und Unternehmenspräsident Kyung Kye Hyun mit ihren Initialen angesprochen werden.

„Wenn Sie mich mit meiner Berufsbezeichnung ansprechen, baut das eine Mauer zwischen Ihnen und mir auf. Deshalb möchte ich, dass Sie mich einfach ‚JH‘ nennen“, sagte Han bei einem Treffen mit Mitarbeitern von Samsung Electronics im Frühjahr. Er kündigte auch verschiedene Kampagnen an, um die Kommunikation im Unternehmen zu verbessern. Der Vizechef des Konzerns Lotte, Kim Sang Hyun, wird seit einigen Wochen Sam genannt.

Nur Kosmetik?

Fraglich ist aber, ob der Namenstrick tatsächlich in weiterer Folge zu einer besseren Kommunikation und faireren Arbeitsbedingungen führt – oder pure Kosmetik bleibt. Glaubt man einer Umfrage der Jobplattform Saramin im vergangenen Jahr, sind die Koreanerinnen und Koreaner selbst skeptisch, berichtet die „Korea Times“.

Gerade sechs Prozent wollen mit einem englischen Vornamen ins Büro gehen. „Allein durch die Änderung der Anrede der Mitarbeiter kann die Organisationskultur eines Unternehmens nicht sofort reformiert werden“, fasst ein Saramin-Sprecher die Ergebnisse zusammen. Gefordert wurde unter anderem auch, Entscheidungsprozesse und Vergütungssysteme in den Unternehmen zu reformieren.