Die Frau ist jung und schön, aber sie will nicht mehr begafft werden. Nackt klettert sie aus dem goldenen Bilderrahmen und verlässt die Rolle des Aktmodells. Diese Fotografie der französischen Künstlerin Orlan von 1966 hängt nun in der Schau „Une Avantgarde feministe. Photographies et performances des annees 1970“ in Arles. Die feministischen Foto- und Videoarbeiten aus der Sammlung des Energiekonzerns Verbund bilden einen der Höhepunkte des Fotofestivals „Rencontres d’Arles“, das sich diesen Sommer besonders auf das Schaffen von Künstlerinnen konzentriert.
Die Sammlung des Verbunds wird in einem Gebäude der LUMA Foundation gezeigt, das 2021 seine Pforten öffnete. Ein spektakulärer Turm von US-Architekt Frank Gehry krönt dieses elf Hektar große Kulturareal. Die Fassade des Hochhauses funkelt durch 11.000 verbaute Aluminiumkästen; die Baukosten betrugen offiziell 150 Millionen Euro, inoffiziell über 200 Millionen.
Aussichtsplattform mit Riesenrutsche
Die Schweizer Milliardärin und Kunstsammlerin Maja Hoffmann hat sich mit dem architektonischen Landmark einen Lebenstraum erfüllt. In ihrer Jugend verbrachte die Erbin des Schweizer Pharmakonzerns Hoffmann La-Roche viel Zeit in Arles. Ihr Vater Luc Hoffmann hat als Ornithologe das Vogelforschungszentrum in der nahegelegenen Camargue aufgebaut.
Das Fotofestival Arles kann sich über Hoffmanns Engagement nur freuen. Gehrys 1997 in Bilbao eröffnetes Guggenheim Museum beflügelte die damals heruntergekommene Hafenstadt, nun hat sein Turm das ökonomisch schwache Arles auf die Landkarte der Architekturfans gesetzt. Überraschenderweise dient das Hauptgebäude nicht als Kunsthalle.
Das Publikum kann zur Aussichtsplattform hinauffahren, eine gewundene Rutsche von Carsten Höller hinuntersausen und einige Installationen sehen. Die zeitgenössischen Wechselausstellungen werden jedoch im Parc d’Ateliers gezeigt. Dort stehen fünf renovierte Straßenbahnremisen, rundherum ein schöner Landschaftsgarten mit Teich.
Emanzipation mit Bügelbrett
Vorbei an Lavendelsträuchern führt der gepflasterte Weg zu den Künstlerinnen, die das Energieunternehmen Verbund seit bald 20 Jahren sammelt. Zur Ausstellungseröffnung reisten die Künstlerinnen Orlan, Martha Wilson und die Wienerin Karin Mack an. „Plötzlich war ich nur mehr Hausfrau und Mutter und fragte mich, was aus mir geworden war“, erzählte Mack beim Ausstellungsrundgang. 1975 fotografierte sich die Künstlerin in schwarzem Kleid und Schleier auf einem Bügelbrett, so als zelebriere sie ihr eigenes Begräbnis.
Valie Export nahm fast zeitgleich mit ihrer Fotocollage „Geburtenmadonna“ die Idealisierung der Mutterfigur aufs Korn. Eine marienhaft posierende Frau gebiert darin eine Waschmaschine, aus der rote Handtücher fließen. Es ist faszinierend zu sehen, wie die Feministinnen der Sixties und Seventies ganz ähnliche Bilder produzierten, ohne voneinander zu wissen.

So presste die Brasilianerin Ana Mendieta ihr Gesicht ebenso an eine Glasplatte wie die hinter dem Eisernen Vorhang lebende Katalin Ladik. In klischeehafte Frauen- und Männerrollen zu schlüpfen und sie auf diese Weise zu unterminieren reizte die US-amerikanische Kunststudentin Cindy Sherman ebenso wie die Mailänderin Marcella Campagnano. Verbund-Sammlungsleiterin Gabriele Schor betont in der Schau neben der kämpferisch-provokanten auch die poetische Kraft der Arbeiten.
Kirchen als Kunsthallen
Dass Künstlerinnen einen so wichtigen Platz bei Frankreichs wichtigstem Fotofestival einnehmen, ist keine Selbstverständlichkeit. „Wo sind die Frauen?“, fragte das Fotokollektiv La Part des femmes 2018 in der Zeitschrift „Liberation“. Die Gruppe kritisierte in ihrem Artikel, dass der Frauenanteil in der Geschichte des Fotofestival Arles nie über 20 Prozent hinausgekommen sei.
Bei der 50. Jubiläumsausgabe 2019 hatte diese Unterrepräsentation dann endlich ein Ende. Für den neuen Festivalleiter Christoph Wiesner, der die „Rencontres“ während der Pandemie übernahm, gehen Qualität und ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis Hand in Hand.
Fotografie als Publikumsmagnet
Während Vincent van Goghs Gemälde Arles kunsthistorische Berühmtheit bescherten, wirkt heutzutage die Fotografie als Magnet. 2021 zog das sommerliche Festival rund 112.000 Gäste in die Stadt an der Rhone. Kein Wunder, verfügt das Festival doch über attraktive Ausstellungsorte wie ehemalige Kirchen, Paläste oder ein Hospital.
In der Eglise Sainte-Anne läuft eine Fotoausstellung der Filmemacherin Babette Mangolte. Die Französin ging 1970 nach New York und wurde dort zur Chronistin der innovativen Tanz- und Performanceszene. Mangoltes Aufnahmen vermitteln den Geist der Erneuerung, der in den Tanzstücken von Merce Cunningham, Trisha Brown oder Lucinda Childs zum Ausdruck kam.
Auf die Spuren der US-Fotografin Lee Miller (1907–1977) heftet sich eine Personale im Espace Van Gogh. In diesem Hospital erholte sich der Maler einst von seiner Selbstverletzung am Ohr. Die Ausstellung konfrontiert Millers Modefotografie für Vogue und Co. mit ihren Kriegsreportagen. Auf Studioeleganz folgen als Clash Aufnahmen von Leichenbergen, die Miller in den Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau dokumentierte.
Palmen im Feuer
Kriege und humanitäre Katastrophen nehmen auch in der Fotosammlung des Internationalen Roten Kreuzes eine zentrale Rolle ein. Für die gelungene Ausstellung „Un monde a guerir“ im erzbischöflichen Palast wurden 600 Bilder – teilweise von berühmten Namen – aus dem Archiv des Genfer Rotkreuzmuseums ausgeliehen. Der Gründer der Hilfsorganisation Henry Dunant erkannte früh die Wichtigkeit des Mediums für seine Arbeit. Die Schau spannt den Bogen von Aufnahmen aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg ab 1861 bis zum aktuellen Krieg in Syrien.
Was zeitgenössische Krisen angeht, beeindruckt besonders die Installation der französischen Künstlerin Noemie Goudal. Ihr ökologisch motiviertes Projekt „Phoenix“ macht in der aufgelassenen Dreifaltigkeitskirche viel her. Zwei Videos auf großen Projektionsflächen führen mit entsprechender Soundkulisse in den Dschungel.
Plötzlich beginnen die Palmen in dem einen Film zu brennen, während sich die Äste und Lianen im anderen ins Wasser absenken. Der Clou besteht darin, dass hier keine echte Natur, sondern nur hintereinander geschichtete Kulissen zerstört werden. So großartig der illusionistische Effekt, so trist Botschaft: Der Klimawandel gefährdet unser Ökosystem durch Hitze ebenso wie durch Überflutung. Für Illusionen bleibt uns keine Zeit.