Boris Johnson
Reuters/Henry Nicholls
Johnson geht

Abschied mit Wehmut, aber ohne Reue

Boris Johnson hat sich vehement gewehrt, am Donnerstag hat er dennoch weichen müssen. „Es ist eindeutig der Wille der Konservativen Partei, dass es einen neuen Chef und damit einen neuen Premierminister gibt“, sagte er. Für die vielen Skandale, die ihn schließlich zum Rückzug zwangen, entschuldigte er sich nicht. Auch das Amt des britischen Regierungschefs will er vorerst nicht räumen.

Vor seinem Amtssitz in der Downing Street 10 wandte Johnson sich an die britische Bevölkerung: „Ich möchte, dass Sie wissen, wie traurig ich bin, den besten Job der Welt aufzugeben. Aber so ist es nun einmal.“ Als er an das Redepult trat, waren von außerhalb Buhrufe zu hören, seine Ehefrau mit Baby auf dem Arm sowie Regierungsmitglieder und Mitarbeiterinnen spendeten hingegen Applaus.

Die gegensätzlichen Reaktionen waren bezeichnend für einen Großteil von Johnsons spaltender Amtszeit als Premierminister, die mit dem größten Stimmenanteil für die Konservativen seit 1979 begann, aber von Skandalen überschattet wurde. Sowohl in seiner Partei als auch innerhalb der Bevölkerung war der Ruf nach seinem Rücktritt schließlich lauter als der Zuspruch derjenigen, die ihm bis zum Schluss die Treue hielten. Seine Rede enthielt jedoch keine Entschuldigung oder Hinweise auf Gewissensbisse.

Johnson verkündet Rücktritt als Parteichef

Der britische Premierminister Boris Johnson hat den Rücktritt als Chef seiner Konservativen Partei bekanntgegeben. Er wolle aber als Regierungschef weitermachen, bis ein Nachfolger gewählt ist, sagte Johnson.

Überzeugungsversuche ohne Erfolg

„Ich habe versucht, meine Kollegen davon zu überzeugen, dass es exzentrisch wäre, die Regierung zu wechseln, wenn wir so viel leisten und ein so großes Mandat haben“, sagte Johnson. Er habe noch versucht, seine Partei von seinem Verbleib zu überzeugen. „Ich bedauere, dass ich keinen Erfolg hatte mit diesen Argumenten, und natürlich ist es schmerzhaft, so viele Ideen und Projekte nicht selbst vollenden zu können“, sagte er.

Johnson zeigte während seiner Rede wenig Emotionen, hob stattdessen seine politischen Errungenschaften hervor, etwa die Durchführung des Brexits oder die CoV-Impfkampagne, die er einst als Wettlauf zwischen der EU und Großbritannien dargestellt hatte. Er entschuldigte sich nicht für die Skandale, die schließlich sein Amt als Premierminister beendeten, von Partys in seinem Büro während des Lockdowns über Spendenaffäre bis hin zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Partei.

Ärger über mangelnde Einsicht

Bei manchen Parteimitgliedern sorgte die fehlende Reue des Premiers noch für zusätzlichen Ärger. „Es war eine kurze und bizarre Rücktrittsrede, in der das Wort Rücktritt nicht ein einziges Mal erwähnt wurde. Es gab keine Entschuldigung, keine Reue“, sagte Andrew Bridgen, ein konservativer Abgeordneter und Johnson-Kritiker. „Es gab keine Entschuldigung für die Krise, in die seine Handlungen unsere Regierung und unsere Demokratie gebracht haben.“

In der ersten Kabinettssitzung nach seinem angekündigten Rückzug rief Johnson am Donnerstagabend zur Umsetzung des Regierungsprogramms auf. Es werde aber weder neue Vorhaben geben noch einen gravierenden Richtungswechsel. Er betonte, wichtige Haushaltsentscheidungen sollten der nächsten Premierministerin oder dem nächsten Premierminister überlassen werden. Mit am Kabinettstisch saßen sechs neue Minister, die Johnson unmittelbar vor seiner Rücktrittsankündigung ernannt hatte.

Massenrücktritte gingen voraus

Seit Dienstagabend hatten sich fast 60 Minister, Staatssekretäre und andere Regierungsvertreter von Johnson losgesagt. Zuletzt forderte ihn sogar der erst am Dienstag ins Amt berufene Finanzminister Nadhim Zahawi zum Rücktritt auf. Dieser hatte trotz der Rücktrittswelle noch am Mittwoch erklärt, er wolle im Amt bleiben.

Zahawi gilt wie Außenministerin Liz Truss und Handelsministerin Penny Mardaunt als möglicher Nachfolger. In Umfragen führt Verteidigungsminister Ben Wallace. Offiziell hat bisher nur Generalstaatsanwältin Suella Braverman ihre Kandidatur angekündigt. Truss brach Medienberichten zufolge ihre Reise zum G-20-Gipfel nach Indonesien ab.

Einem Zeitungsbericht zufolge wollen die Konservativen bis Anfang September einen neuen Premierminister bestimmen. Die „Financial Times“ beruft sich auf mit den Plänen vertraute Abgeordnete.

Major: Verbleib im Amt „unklug“

Allerdings fordern zahlreiche Parteifreunde, der 58-Jährige solle sofort auch als Regierungschef abtreten – etwa der ehemalige britische Regierungschef John Major: Johnson sollte „zum allgemeinen Wohl des Landes“ nicht so lange im Amt bleiben, bis ein Nachfolger gefunden sei, schrieb Major in einem offenen Brief. „Der Vorschlag, dass der Premierminister bis zu drei Monate im Amt bleibt, nachdem er die Unterstützung seines Kabinetts, seiner Regierung und seiner Parlamentsfraktion verloren hat, ist unklug und möglicherweise unhaltbar“, schrieb Major, der von 1990 bis 1997 Premierminister war und aus Johnsons Konservativer Partei stammt.

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon kritisierte in der BBC, Johnson werde „zweifellos noch mehr Chaos anrichten als bisher“, wenn er bis zum Herbst im Amt bleibe.

Causa Pincher brachte Fass zum Überlaufen

Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch eine Affäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Dabei kam heraus, dass Johnson von älteren, ähnlichen Anschuldigungen gegen Pincher wusste, ihn aber dennoch in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten.

Johnson war nach einem erdrutschartigen Wahlsieg 2019 Chef der Konservativen und damit Premierminister geworden. Die anfängliche Popularität des ehemaligen Journalisten und Bürgermeisters von London wurde jedoch bald geschmälert durch Kritik an seinem betont kämpferischen und von Gegnern oft als chaotisch empfundenen Regierungsstil. Immer wieder wurden Rücktrittsforderungen laut.

Misstrauensvotum nur knapp überstanden

Johnsons Regierung und seine Konservative Partei wurden in den vergangenen Monaten von einer ganzen Reihe von Affären erschüttert. Neben einer Spendenaffäre und Skandalen um übergriffige Parteikollegen wog besonders der Skandal um Partys am Regierungssitz während des Coronavirus-Lockdowns schwer.

Anfang Juni überstand Johnson nur knapp ein parteiinternes Misstrauensvotum. Ein einflussreicher Ausschuss namens 1922 Committee aus Tory-Abgeordneten ohne Ministerrang könnte die Parteiregeln Berichten zufolge kommende Woche ändern und den Weg für ein zweites Misstrauensvotum frei machen.

Labour-Chef Keir Starmer sprach mit Blick auf Johnsons angekündigten Rücktritt als Parteichef der Konservativen von einer „guten Nachricht“. Was das Land jetzt brauche, sei aber „kein Wechsel an der Spitze der Torys. Wir brauchen einen echten Regierungswechsel“, forderte Starmer.

Letzter Applaus

Bis zuletzt hatte Johnson aber noch Unterstützer. Sie lobten den Premier dafür, er habe in den „großen Fragen“ wie der CoV-Impfkampagne richtig entschieden sowie den Brexit vollendet. Auch für seine klare Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen im Krieg gegen Russland wurde Johnson vielfach gelobt. In einem Telefonat dankte der ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj britischen Angaben zufolge Johnson für seine Hilfe. Russland hingegen bejubelte den Rückzug mit Häme.

Verzögerter Rücktritt wegen Hochzeitsparty?

Darüber hinaus muss Johnson sich möglicherweise einen neuen Ort für seine Hochzeitsfeier suchen: Er und seine Frau Carrie hatten im Mai 2021 im kleinen Kreis geheiratet – wegen der CoV-Beschränkungen konnten sie nur 30 Gäste zu einer Gartenparty in die Downing Street einladen. Für den 30. Juli ist nun eine große Party in Chequers, dem offiziellen Landsitz des britischen Premierministers, geplant.

Nun kündigte Johnson ja an, noch so lange Regierungschef zu bleiben, bis ein neuer Parteichef gewählt ist – möglicherweise also bis zum Parteitag im Oktober. Der „Daily Mirror“, der „Guardian“ und andere britische Medien berichten nun, der Zeitplan hänge vor allem mit Johnsons Hochzeitsplänen zusammen – die Einladungen nach Chequers seien bereits verschickt.

Auch ein Versprecher deutet darauf hin, dass Johnson in seiner Rücktrittsrede das Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert im Sinn hatte: Als er vor seinem Amtssitz in der Londoner Downing Street seinen Rücktritt bekanntgab, bedankte er sich bei seinen „wunderbaren Mitarbeitern hier in Chequers“.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan von der oppositionellen Labour-Partei kommentierte die Vorwürfe ironisch: „Auch wenn wir alle gerne ein rauschendes Hochzeitsfest auf Kosten des Steuerzahlers in Chequers haben würden, wird er das nicht tun können, weil die britische Öffentlichkeit es abscheulich finden wird“, sagte Khan im Sender LBC Radio.