Penny Mordaunt
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Großes Bewerberfeld

Gerangel um Nachfolge Johnsons erwartet

Schon oft ist er scheinbar vor dem Aus gestanden, viele Skandale hat er durchtaucht, doch nun ist es doch geschehen: Der britische Premier Boris Johnson muss nach etlichen Rücktritten in seinem Kabinett den Hut nehmen. Wer das Amt des Parteichefs der Konservativen und damit auch das Amt des Premierministers übernimmt, erscheint völlig offen. Viele Namen werden genannt, doch es drängt sich noch keiner davon wirklich auf. Entsprechend hart dürfte das Gerangel werden.

Gut ein Dutzend Namen werden in britischen Medien für die Johnson-Nachfolge genannt. Und wie dynamisch die Situation ist, sieht man an einem Vergleich mit der Debatte im Jänner dieses Jahres. Auch damals war angesichts von immer mehr Berichten über Partys während des strengen Coronavirus-Lockdowns schon über einen Rücktritt des Premiers spekuliert worden.

Ganz oben auf der Nachfolgeliste standen zwei Namen, die heute deutlich weiter unten zu finden sind: Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss. Nun werden zwei anderen die besten Chancen eingeräumt: Verteidigungsminister Ben Wallace und der Staatsministerin für Außenhandel, Penny Mordaunt. Ihre Favoritenrolle verdanken sie vor allem einer Umfrage unter Tory-Parteimitgliedern, die die beiden knapp, aber doch an der Spitze der Beliebtheit zeigt. Allerdings: Wallace kommt als Spitzenreiter gerade einaml auf 13 Prozent.

Favorit als eher unbeschriebenes Blatt

Wallace gewann im Zuge des Ukraine-Krieges an Beliebtheit. Der 52-jährige ehemalige Offizier gilt als geradlinig und kompetent. Sein Ministerium steht wegen der Waffenlieferungen in die Ukraine hoch im Kurs, nachdem es schon 2021 für die Evakuierung britischer Staatsbürger aus Afghanistan Beifall bekommen hatte. Er war ab 2016 als Staatssekretär im Innenministerium für Sicherheit zuständig, bevor er 2019 das Verteidigungsministerium übernahm. Im großen Rampenlicht stand er bisher aber nicht – und es ist auch nicht klar, ob er den Posten des Partei- und Regierungschefs überhaupt anstrebt. Entsprechende Fragen beantwortete er bisher eher abwartend.

Ben Wallace
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Ben Wallace rückte erst kürzlich in die erste Reihe der Kandidatinnen und Kandidaten auf

Auch Mordaunt kommt eigentlich aus der zweiten Reihe: 2019 wurde sie die erste britische Verteidigungsministerin, Johnson entzog ihr dann das Amt, weil sie seinen Rivalen Jeremy Hunt unterstützt hatte. Die entschiedene Brexit-Befürworterin ist zurzeit Staatssekretärin im Handelsministerium. Die Lockdown-Partys, die Hintergrund des jüngsten Misstrauensvotums gegen Johnson waren, nennt sie beschämend und erklärt, die Wähler wünschten sich von der Regierung Professionalität und Kompetenz. Einige sehen in ihr eine Kompromisskandidatin für den Vorsitz der zerstrittenen Torys.

Finanzminister leitete mit Rücktritt Sturz Johnsons ein

Sunak, der erste hinduistische Finanzminister Großbritanniens, wurde lange als Favorit für die Nachfolge von Johnson gehandelt. Doch Fragen zu seinem beträchtlichen Privatvermögen und Steuertricks seiner Familie schadeten zuletzt seinem Ruf. Als Finanzminister trat Sunak am Dienstag aus Protest gegen Johnsons Amtsführung zurück, was die Spekulationen um seine eigenen Ambitionen anheizte. Am Freitag bestätigte er Medienberichte, wonach er sich für das Amt bewerben werde.

Der britische Finanzminsiter Rishi Sunak
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Sunak gilt als smarter Finanzfachmann, politisches Profil ausbaubar

Er arbeitete in der Finanzbranche, bevor er in die Politik ging. Nicht nur deshalb eilt ihm der Ruf voraus, zwar smart, aber mehr Wirtschaftsberater als Politiker zu sein. Gestaltungswille wird ihm eher nicht zugeschrieben, zudem vertritt er im Vergleich zu Johnson noch neoliberalere Positionen und wirbt für niedrigere Steuern und eine stärkere Begrenzung der öffentlichen Ausgaben. In der Kritik stand er, als er in bangen Stunden der Pandemie in Kalifornien weilte, während britische Unternehmen um Hilfe riefen.

Truss und die Kameras

Truss hat seit 2014 schon mehrere Staatssekretariate und Ministerposten innegehabt, in der allerersten Reihe steht sich aber erst seit Herbst des Vorjahres, als sie Dominic Raab im Außenministerium ablöste. Nebenbei übernahm sie zuletzt auch den vakanten Job der Brexit-Ministerin, bei dem sie mit neuen Handelsabkommen gute Figur machte. Truss wird aber auch nachgesagt, sich etwas zu oft für Regierungsfotografen und damit Steuergeld zu inszenieren. Im November ließ sie sich etwa in einem Panzer ablichten – ein Bild, das an ein ikonisches Foto von Margaret Thatcher erinnern sollte.

Jeremy Hunt: Revanche für 2019?

Der frühere Außen- und Gesundheitsminister Jeremy Hunt unterlag 2019 im Rennen um den Parteivorsitz der Konservativen. Der frühere Geschäftsmann gilt als besonders belastbar, jedoch wenig charismatisch. Der 55-Jährige hält nicht damit hinter dem Berg, dass er seine Ambitionen auf den Einzug in die Downing Street nicht ganz aufgegeben hat.

Im vergangenen Monat leitete Hunt mit klarer Kritik am Parteichef recht unverhohlen einen erneuten Versuch ein, ihm den Chefposten streitig zu machen. Unter Johnsons Führung würden die Wähler „uns nicht mehr vertrauen“, eine Niederlage bei den nächsten Parlamentswahlen sei programmiert, warnte er.

Blitzkarriere von Nadhim Zahawi

Eine Blitzkarriere hat der 55-jährige Nadhim Zahawi hingelegt. Sympathien hat er sich aber vor allem erworben, als er in der Regierung noch für die Covid-Impfungen zuständig war. Die Kampagne war eine der schnellsten weltweit. Die steile Karriere des ehemaligen irakischen Flüchtlings, der als Kind nach Großbritannien kam, hebt ihn von Konkurrenten ab. Erst vergangene Woche erklärte Zahawi, es wäre für ihn ein Privileg, Premierminister zu werden.

Kurz vor Johnsons Rücktrittserklärung am Donnerstag hatte Zahawi Johnson dazu aufgefordert. Er selbst war weniger als 48 Stunden zuvor von Johnson vom Bildungsminister zum Finanzminister ernannt worden. Allerdings: Auch Zahawis Ruf wird von Fragen nach seinem im Ölgeschäft angehäuften Privatvermögen überschattet.

Sajid Javid schon einmal gescheitert

Sajid Javid war bis zu seinem Rücktritt diese Woche Gesundheitsminister – zuvor war er Schatzkanzler. Auch er ist ehemaliger Investmentbanker, und er gehörte eigentlich zu den „Remainern“, setzte sich also gegen den Brexit ein. Javid stammt aus eher bescheidenen Verhältnissen und arbeitete sich hoch. Im Rennen um die Nachfolge von Theresa May landete er auf dem vierten Platz.

Der frühere Investmentbanker gehört dem wirtschaftsliberalen Flügel der Konservativen an. Der 52-Jährige hatte Johnson lange verteidigt, trat nun aber zusammen mit Finanzminister Sunak erneut zurück. Ebenfalls wie Sunak steht Javid allerdings im Zusammenhang mit seinem Vermögen und wegen Steuertricks in der Kritik.

Gesundheitsminister Sajid Javid
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Sajid Javid – ehemaliger Schatzkanzler

Armeeoffizier als Quereinsteiger

Der 49-jährige ehemalige Armeeoffizier Tom Tugendhat ist ein prominenter Abgeordneter und Vorsitzender im einflussreichen Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. Eine Kandidatur im Falle eines Führungswechsels hat er angedeutet, parteiintern steht ihm das Lager der Johnson-Anhänger jedoch kritisch gegenüber. Profiliert hat er sich unter anderem mit einer harten Haltung gegenüber China und Kritik am Truppenabzug aus Afghanistan. Tugendhat hat allerdings keinerlei Amtserfahrung in einem Kabinett.

Hardlinerin als schillernde Figur

Als schillernde und umstrittene Figur gilt die 49-jährige Innenministerin Priti Patel. Ihre harte Haltung zur Einwanderung fand bei vielen Tory-Mitgliedern Gefallen, ihre Handlungsfähigkeit wurde aber durch die Dramen von Geflüchteten im Ärmelkanal infrage gestellt. Als Ministerin für internationale Entwicklung musste sie wegen inoffizieller Treffen mit israelischen Beamten zurücktreten. Johnson holte sie als Innenministerin zurück, dort sorgte sie gleich für Schlagzeilen, weil sie – durch offizielle Untersuchungen bestätigt – Beamte schikanierte. Nach dem skandalumrankten Johnson dürften die Torys aber wohl eher keine Lust auf weitere Kapriolen an der Parteispitze haben.

Die britische Innenministerin Priti Patel
APA/AFP/Daniel Leal
Priti Patel sorgt immer wieder für Schlagzeilen

Brexit-Hardliner melden Interesse an

Schon ihren Hut in den Ring geworfen hat die Generalstaatsanwältin Suella Braverman. Die 42-Jährige war unter Johnsons Vorgängerin Theresa May Staatssekretärin im Brexit-Ministerium und trat aus Protest zurück, weil ihr Mays Pläne für den EU-Ausstieg nicht weit genug gingen. Inhaltlich ist sie am rechten Parteiflügel angedockt. Das verbindet sie mit dem Abgeordneten Edward Baker, der sich vor allem als Brexit-Hardliner positioniert hat und ebenfalls laut über ein Engagement nachdenkt.

Genannt wird ab und zu auch Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng. Seine Eltern wanderten aus Ghana ein, der ehemalige Finanzanalyst übernahm 2021 als erster schwarzer Tory ein Ministeramt. Eine Kandidatur dürfte Verkehrsminister Grant Shapps planen. Abgewunken haben bereits Vizeministerpräsident Dominic Raab, die ehemalige Wirtschaftsministerin Andrea Leadsom und der frühere Wohnungsbauminister Michael Gove.

Harter Fight erwartet – und große Aufgaben

Mit dem großen Feld der Kandidatinnen und Kandidaten wird es wohl auch dauern, bis die einzelnen Flügel der Partei ihre Meinungsbildung abgeschlossen haben. Und die seinerzeitige Kür von May erinnert auch daran, dass eine solche Wahl bei den Torys nicht ganz zimperlich geführt wird – und durchaus mit einer Überraschung enden kann.

Anne McElvoy („The Economist“) über Johnsons Rücktritt

Anne McElvoy, leitende Redakteurin des „Economist“, analysiert den Rücktritt des britischen Premierministers Boris Johnson und spricht darüber, wie es in den kommenden Wochen in Großbritannien weitergehen könnte.

Auf den neuen Premierminister – oder die neue Premierministerin – warten jedenfalls schwierige Aufgaben. Nicht nur muss der von Johnson verursachte Scherbenhaufen bereinigt werden, auch große Probleme müssen gelöst werden. Die wirtschaftliche Lage Großbritanniens ist derzeit – siehe etwa Inflation – alles andere als rosig.

Und es könnte eine kurze Amtszeit werden. Zwar stehen die nächsten Wahlen regulär erst 2025 an, doch die oppositionelle Labour-Party fordert Neuwahlen und wäre nach derzeitigem Stand der Umfragen großer Gewinner. Oppositionschef Keir Starmer könnte dann in die Downing Street wechseln – wenn er lange genug Labour-Chef bleibt. Für Neuwahlen braucht es aber eine Mehrheit im Parlament – und die gibt es nur, wenn sich die Konservativen so zerstreiten, dass einige von ihnen mitstimmen.