„Nord Stream 1“-Pipeline in Lubmin, Deutschland
Reuters/Hannibal Hanschke
Wartung gestartet

Kein Gas mehr durch „Nord Stream 1“

Der Durchfluss durch die Gaspipeline „Nord Stream 1“ ist am Montagfrüh auf Null gefallen. Das ging aus der Website des Betreibers hervor. Mit Sorge wird in Westeuropa die Frage gestellt, ob der russische Energiekonzern Gasprom nach dem Ende der Wartung wieder in vollem Umfang Gas nach Westen pumpen wird.

Laut der Betreiberwebsite strömte ab 06.00 Uhr kein Gas mehr. Die durch die Ostsee laufende Röhre soll nach jährlichem Turnus in den kommenden zehn Tagen gewartet werden und kann nicht für den Gastransport genutzt werden.

Seit einigen Wochen liefert Gasprom nur noch einen Teil der Gasmenge und hat dafür technische Gründe vorgebracht. Die Bundesregierung hält die Kürzung jedoch für politisch motiviert. Angesichts der Unsicherheit für die Zeit nach dem 21. Juli haben Länder wie Deutschland eine Notfallplanung für einen Komplettausfall russischen Gases in Gang gebracht.

Bis 21. Juli sollen die Wartungsarbeiten dauern. Und obwohl es am Sonntag auch gute Nachrichten gab – Kanada erlaubt die Ausfuhr einer reparierten Turbine – bleiben die Sorgen, ob Russland nach der Wartung tatsächlich wieder Gas liefert.

Grafik zur Gaspipeline Nord Stream
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/dpa

Lieferungen an OMV gekürzt

Nach Angaben der OMV kürzte Gasprom kurz nach Beginn der Wartung die Liefermengen weiter. Die OMV erhalte um rund 70 Prozent weniger als nominiert, sagte OMV-Sprecher Andreas Rinofner am Vormittag. Dieser Kürzungsumfang habe sich bestätigt, hieß es am Abend auf APA-Nachfrage. Zuletzt, seit Mitte Juni, hatte Gasprom ungefähr die Hälfte der bestellten Menge geliefert.

Ob die Gasspeicher trotz der Lieferkürzungen weiter befüllt werden können, hänge auch vom jeweiligen Tagesverbrauch und dem Zukauf am Spotmarkt ab, so der Sprecher. Die tatsächlich gelieferten Mengen – und wie viel davon eingespeichert wurde –, stehen erst ein bis zwei Tage später fest.

Kreml: Erfüllen alle Verträge

Russland hatte zuletzt am Freitag versprochen, die Energielieferungen durch die gedrosselte Ostsee-Pipeline „Nord Stream 1“ wieder hochzufahren, sobald die Turbine wieder einsatzfähig ist. Es handle sich nicht um ausgedachte Reparaturarbeiten, sondern um planmäßig angesetzte Instandhaltungen.

„Wir weisen voll und ganz jedwede Andeutungen oder direkte Mitteilungen zurück, dass die russische Seite Gas oder Öl als Waffe für einen politischen Druck benutzt“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Russland erfülle alle Verpflichtungen gemäß der Verträge. „Und Russland ist vor allem in der Lage, die volle Energiesicherheit Europas zu gewährleisten.“ Doch aus dem Kreml waren in den vergangenen Wochen auch andere Signale gekommen. Und für rund zehn Tage fließt nun gar kein Gas durch die Ostesee-Pipeline.

„Nord Stream 1“ wird abgeschaltet – zur Wartung

Die kanadische Regierung will die Lieferung der gewarteten russischen „Nord Stream 1“-Turbine nach Deutschland ermöglichen. Dazu werde Kanada „eine zeitlich begrenzte und widerrufbare Erlaubnis“ an Siemens Canada geben, sagte der für Bodenschätze zuständige Minister Jonathan Wilkinson am Samstag. Offiziell wegen Wartungsarbeiten soll die Pipeline am Montag bis 21. Juli abgeschaltet werden. Dann fließt kein Gas mehr.

21. Juli als kritisches Datum

Dass zunächst weniger Gas nach Österreich fließt, erwartet Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne). Das werde auch Auswirkung auf die Einspeicherung haben. Trotzdem könne laut Berechnungen der E-Control das Speicherziel der Bundesregierung weiterhin erreicht werden, sofern Russland nach der Wartung wieder Erdgas im vereinbarten Umfang liefert, so die Ministerin am Sonntag in einer Aussendung.

Der kritische Zeitpunkt sei die Wiederinbetriebnahme der Pipeline, die für den 21. Juli geplant sei. „Niemand kann heute prognostizieren, ob die Lieferungen danach vollumfänglich wiederaufgenommen werden. Der 21. Juli ist deshalb ein kritisches Datum für die Gasversorgung in ganz Europa“, betonte Gewessler.

„Nord Stream 1“ spiele für die direkten Gaslieferungen nach Österreich jedoch nur eine untergeordnete Rolle. „Österreich wird vorwiegend über das Leitungssystem über die Ukraine beliefert. Trotzdem wird durch den vollständigen Lieferausfall über ‚Nord Stream 1‘ aufgrund der Wartungsarbeiten auch in Österreich ein deutlicher Lieferrückgang erwartet“, heißt es in der Aussendung.

Warnungen von Habeck

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck warnte indes am Sonntag vor einem „Alptraumszenario“. Die deutsche Regierung versuche sich mit ihren Maßnahmen auf das Schlimmste vorzubereiten, um genau das zu vermeiden, sagte er im Deutschlandfunk mit Blick auf die Folgen eines Gasausfalls. Angesichts der stark steigenden Gaspreise warnte er zudem davor, dass es „ohne weitere politische Flankierung“ eine zu starke soziale Spaltung geben werde. Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke (wie Habeck von den Grünen) forderte in der „Bild am Sonntag“ ein Moratorium für drohende Gas- und Stromsperren bei nicht bezahlten Rechnungen.

Deutschland könnte mehr Geld für Flüssiggas brauchen

Habeck verwies auf den nötigen Mix aus Füllung der Gasspeicher, Rettung der Gasversorger und Einsparungen bei Bürgerinnen und Bürgern, Firmen oder in Verwaltungsgebäuden. Er deutete im Deutschlandfunk an, dass die von der Regierung bereitgestellten 15 Mrd. Euro für den Ankauf von teurerem Flüssigerdgas (LNG) möglicherweise nicht ausreichten, um Deutschlands Gasspeicher auf die erhofften 80 Prozent im Oktober zu füllen. Es könne sein, dass die Regierung mehr Geld bereitstellen müsse.

Er kritisierte, dass einige Gasversorger sogar wieder Gas aus ihren Speichern verkauften, was legal sei. „Das Problem ist, dass die großen Speicher, die teilweise in dem Besitz von Gasprom sind und jetzt treuhänderisch verwaltet werden, … vergleichsweise leer sind. Also, die 63 Prozent Durchschnitt erzählen uns nicht die ganze Geschichte“, sagte er mit Blick auf den derzeitigen Füllstand.

Habeck kritisierte zudem die europäischen Vorgaben, dass bei einem Gasmangel zunächst bei Unternehmen und zuletzt bei Verbraucherinnen und Verbrauchern gespart werden dürfe. „Das finde ich unbefriedigend. Aber es ist die europäische Rechtsnorm und sie ist noch nicht geändert worden“, sagte er.

Die Union forderte indes Habeck (Grüne) auf, Deutschland besser auf eine Gasmangellage im Falle eines Totalausfalls der Pipeline vorzubereiten. „Unternehmen und Bürger erwarten zu Recht einen Plan der Regierung, was konkret im Ernstfall passiert“, sagte Unionsfraktionsvize Jens Spahn. Auch die deutsche Industrie verlangt Gassicherheit.

Studie: Gaslücke womöglich gar nicht groß

Dabei sind die Folgen eines Lieferungsausfalls alles andere als klar: Eine jüngere Gemeinschaftsdiagnose von mehreren deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten kommt dagegen zum Schluss, dass selbst bei einem sofortigen Komplettstopp von „Nord Stream 1“ auch im ungünstigsten Fall dieses Jahr kein Gasengpass mehr drohe und im kommenden Jahr auch nur in eher ungünstigen Szenarien.

Die Wirtschaftswissenschaftler haben dafür 1.000 Kombinationen aus 26 Faktoren gerechnet, wie Stefan Kooths vom Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) erklärt. Dadurch simuliere man verschiedene Szenarien. In der Mitte der Prognosen sehen die Forscher aufgrund der vollen Speicher keine Gaslücke mehr in diesem oder kommenden Jahr. Völlige Entwarnung geben sie aber nicht.

Hohe Preise als Risikofaktor

Allerdings: Selbst wenn genügend Gas vorhanden ist, bleiben immer noch die hohen Preise. „Auch wenn wir in keine Gasnotlage kommen, bleibt das Gas teuer“, sagte der Chef der deutschen Bundesnetzagentur Klaus Müller dem „Focus“. Dabei seien die Folgen der aktuellen Gasknappheit preislich bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern noch gar nicht angekommen. Bei einer möglichen Mehrbelastung von 2.000 bis 3.000 Euro pro Familie drohe eine „Gasarmut“.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnte vor einer „sozialen Zerreißprobe“. Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich seien auch in Deutschland möglich, sagte Fratzscher dem „Handelsblatt“.