Illustration zeigt DNS
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Archäologie

Dem inneren Neandertaler auf der Spur

Archäologische Funde zeigen, wie frühe Menschen gelebt und welche Spuren sie in den Genen heutiger Menschen hinterlassen haben. Neandertaler-DNA kann etwa beeinflussen, ob jemand raucht oder nachtaktiv ist. Das alte Erbgut gibt auch Einblicke in das soziale Leben der frühen Vorfahren.

Seit der Entdeckung der ersten Neandertaler-Überreste vor mehr als 150 Jahren reißt die wissenschaftliche Debatte über deren Einordnung nicht ab: Wer war der entfernte Verwandte? Wie sind Homo sapiens und Neandertaler in Bezug auf ihre Intelligenz und Kognition zu vergleichen? Bekriegten sich die frühen modernen Menschen mit ihnen, oder lebten sie friedlich nebeneinander?

Jüngste archäologische Funde zeigten, dass sie sich zumindest vermischt haben. Mehr noch – in unserer DNA haben die Neandertaler bis heute Spuren hinterlassen. Tom Higham, Archäologe und Radiokarbonexperte vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien, erklärt im Gespräch mit ORF.at: „Über mehrere Millionen Jahre hinweg haben wir diesen Planeten mit anderen verwandten Homininengruppen geteilt, und jetzt sind da nur noch wir Menschen und unsere Cousins, die Menschenaffen.“

Katerina Douka; Zähne zu einer archäologischen DNA-Untersuchung
Tom Higham/Katerina Douka; APA/AFP/University College London/Aida Gomez-Robles
Die Archäologin Katerina Douka untersucht die DNA von Knochenfragmenten und Zähnen

In seinem Buch „The World Before Us“ beschreibt Higham, dass Neandertaler und Homo sapiens schätzungsweise zwischen 45.000 und 40.000 Jahre lang koexistierten – neue Beweise deuten auf eine noch breitere Überschneidung hin, sowohl in Europa als auch in anderen Teilen Eurasiens –, bevor Neandertaler vor etwa 40.000 Jahren verschwanden.

Knochenfragmente und Zähne

Mit Hilfe neuerer Datierungsmethoden analysieren Higham und die Archäologin Katerina Douka an der Uni Wien tierische und menschliche Knochenfunde und Zähne von archäologischen Fundstätten aus Eurasien. Die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler forschen an einem besseren Verständnis der Altsteinzeit zwischen 150.000 und 30.000 Jahren vor unserer Zeit, in der mindestens acht unterschiedliche Menschenarten die Erde bevölkerten, möglicherweise sogar mehr.

3 Fakten über die Neandertaler und uns

Die Archäologin Katerina Douka und der Archäologe Tom Higham von der Uni Wien erklären, wie Neandertaler-Gene das Leben heutiger Menschen beeinflussen.

Was geschah, als die unterschiedlichen Menschenarten aufeinandertrafen, ist unklar. Im Gespräch mit ORF.at stellt Higham Vermutungen auf: „Haben sie sich gegenseitig umgebracht, gestritten oder lebten sie harmonisch zusammen?“ Es sei schwierig, das archäologisch festzustellen, sagt der Wissenschaftler, aber die Sache sei „weitaus komplexer als bisher angenommen“.

DNA von mysteriösem Mädchen aus der Höhle

Durch die Sequenzierung alter mitochondrialer DNA eines etwa zwei Zentimeter großen Knochensplitters, der in einer Höhle in Südsibirien gefunden wurde, stellte ein Forschungsteam um Higham und Douka 2018 zum ersten Mal fest, dass es sich um einen „Hybriden“ handelte, genauer gesagt: Das Mädchen „Denisova 11“ war das Kind einer Neandertalerin und eines Denisova-Mannes. Durch eine Analyse der Knochendichte fand das Forschungsteam heraus, dass das Mädchen im Teenageralter gewesen sein musste, als es starb – schätzungsweise 17 bis 18 Jahre alt.

Douka schließt daraus, dass das Mädchen in der Gemeinschaft gelebt haben könnte und aufgezogen wurde. Das werfe neue Forschungsfragen auf, sagt die Wissenschaftlerin: „Ob und wie diese unterschiedlichen Populationen in der Lage waren, gemeinsam Kinder aufzuziehen, und ob ihre Kulturen kompatibel waren.“ Die Denisova-Menschen wurden 2010 entdeckt und lebten vermutlich vor etwa 40.000 Jahren im südlichen Sibirien.

Buchcover von „The World Before Us“
Penguin Books
Tom Higham: „The World Before Us. How Science is Revealing a New Story of Our Human Origins.“ Penguin Books Ltd, 320 Seiten.

Neandertaler-Irrtümer

Jüngste Neandertaler-Funde deuten daraufhin, dass diese eine hochentwickelte Gruppe von Jägern und Sammlern gewesen sein könnte, die mehr als 250.000 Jahre lang lebte und Phasen mit oft beträchtlichen Klimaschwankungen überlebte, schreibt Higham im „Science Focus Magazine“ der BBC. Der Forscher erklärt: „Es gibt die Annahme, dass die Neandertaler verdrängt worden sind, weil sie etwa kognitiv und kulturell den anderen Menschenarten unterlegen waren“, so Higham und fügt hinzu: „Wir beginnen zunehmend zu sehen, dass das vielleicht so nicht stimmt.“

Die Neudatierung bemalter Höhlen in Spanien hat gezeigt, dass die Malereien mehr als 65.000 Jahre alt sind – eine Zeit, in der Neandertaler die einzigen Bewohner Europas waren. Diese neuen Erkenntnisse würden die bisherige Annahme, dass frühe Höhlenmalerei von anatomisch modernen Menschen stammt, infrage stellen, schreibt Higham im „Science Focus Magazine“.

Genetisches Erbe relevant bei Covid-19 und HIV

Neandertaler und Denisova-Menschen haben Genvarianten in allen heute lebenden Menschen hinterlassen. Die Genome von Menschen europäischer oder asiatischer Herkunft gehen zu etwa 2 Prozent auf Neandertaler zurück, Denisova-DNA ist am häufigsten in Populationen in Papua-Neuguinea, bei australischen Ureinwohnern und in einigen Populationen auf den Philippinen zu finden – dort machen sie etwa 3 bis 4 Prozent des Genoms aus.

Eine Reihe von Forschungen beschäftigt sich mit der Frage, welche funktionellen Auswirkungen das alte Erbgut auf die Gesundheit heutiger Menschen hat. Das Forscherduo Hugo Zeberg und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat in Studien herausgefunden, dass geerbte Neandertaler-Genvarianten – neben anderen Risikofaktoren – das individuelle Risiko eines schweren COVID-19-Verlaufs erhöhen oder reduzieren können. Bei einer Analyse von Patientendaten aus drei großen Biobanken zeigte sich zudem, dass eine von Neandertalern geerbte Covid-19-Risikovariante auch vor HIV schützen könnte, berichtete das Institut.

Denisova-Höhle in Südsibirien
APA/AFP/Dr. Richard G. Roberts
Die Denisova-Höhle ist eine prähistorische Fundstätte im Altai-Gebirge in Sibirien

Rauchverhalten und Tagesrhythmen

Die Bioinformatikerin Janet Kelso vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat zuletzt Neandertaler-DNA in heute lebenden Menschen in Großbritannien untersucht. Das Forschungsteam um die Wissenschaftlerin stellte fest, dass Teile der Neandertaler-DNA die Stimmung, das Rauchverhalten und Schlafmuster beeinflussen würden, weiters den Hautton, die Leichtigkeit, mit der man bräunt, sowie die Haarfarbe, berichtete die Wissenschaftlerin in einer Aussendung des Instituts.

Es habe sich gezeigt, dass Menschen mit bestimmten geerbten Neandertaler-Varianten durchschnittlich häufiger Raucher seien, während andere Neandertaler-DNA öfter in Nachtmenschen zu finden sei. Die Forscherinnen und Forscher vermuten, dass die Ergebnisse auf die Sonneneinstrahlung zurückzuführen sind. Merkmale wie Haut- und Haarfarbe, Biorhythmen und Stimmung würden von der Sonneneinstrahlung beeinflusst werden, so die Forscherinnen und Forscher.

Offene Fragen

Wichtig sei jedoch zu betonen, dass die geerbten Neandertaler-Varianten etwa Nikotinsucht nicht direkt verursachten, sagt Kelso zu ORF.at und fügt hinzu: „Sie tragen dazu bei, neben vielen anderen genetischen Varianten, das Risiko für die Entwicklung der Sucht zu erhöhen.“ Für die Studie analysierte das Forschungsteam um Kelso Daten von mehr als 112.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der britischen Biobankpilotstudie, die Studienergebnisse wurden im „American Journal of Human Genetics“ veröffentlicht.

Die Forschung stehe noch ganz am Anfang bei der Frage, welche Auswirkungen die geerbten Genvarianten auf die Gesundheit und den Körper haben, sagt Higham. Die Erforschung alter DNA sei jedoch wichtig, um zu verstehen, wie die „Gesundheit des Menschen entstanden ist“. Die Forschung versuche immer noch, die Unterschiede zwischen Homo sapiens und Neandertalern zu verstehen – und zunehmend stelle sich heraus, dass die Unterschiede nicht mit der Kognition und dem Gehirn zusammenhängen, so Higham: „Vielleicht ist das der Schlüssel zum Verständnis, warum wir die einzigen Menschen sind, die übrig geblieben sind, und nicht die Neandertaler.“