Von Bogota nach Wien

Auf den Spuren des Kokains

Kolumbianische Kokabauern produzieren mehr Stoff als zu Zeiten Pablo Escobars, in den europäischen Häfen werden von Jahr zu Jahr neue Rekordmengen des weißen Pulvers sichergestellt, und selbst in Österreich hat sich die Zahl jener, die Kokain konsumieren, in kürzester Zeit verdoppelt. Doch von der Produktion bis zum Konsum – jeder Schritt erzählt die gleiche Geschichte: Der Preis für das pulverisierte Glücksgefühl ist hoch. Eine Reportage von Bogota über Antwerpen bis nach Wien.

Bei der Geschichte des Kokains gibt es, wie in jeder anderen Geschichte auch, die Gewinner und die Verlierer, die Mächtigen und die Machtlosen. Es gibt diejenigen, die das Gesetz machen, und diejenigen, die es brechen. Seit jeher ist es eine Geschichte der Gewalt, Ausbeutung und Zerstörung. Und eine, die manchmal sogar mit dem Tod endet.

Jede Koksline zieht eine Blutspur mit sich. Ihren Anfang nimmt sie in Kolumbien. In diesem Fall: in der Hauptstadt Bogota. Von dort geht es weiter in den Süden des Landes, nach Villagarzon nahe der Grenze zu Ecuador. Zu einem Ort, wo längst keine Straßen mehr hinführen. Da, im Dickicht des Regenwaldes, findet man, mit den richtigen Kontakten, die Cocaleros, die Kokabauern.

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Kokabauer rührt etwas in einem Kübel an
ORF/Rainer Mostbauer
Rodrigo ist kolumbianischer Kokabauer und produziert in den Tiefen des Regenwaldes die illegale Kokpaste
Welldachhütte mitten im Regenwald
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Hier in seiner „Finca“ lebt er – eine Holzbaracke inmitten seiner Kokaplantage
Kokasträucher
ORF/Rainer Mostbauer
Rund zwei Drittel seiner Kokasträucher wurden kürzlich von der Regierung mit Glyphosat zerstört
Kokabauer mit Tuch vor dem Mund steht neben einem Kokastrauch
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Dennoch sieht Rodrigo für sich keine andere Möglichkeit, zu überleben, als Kokapflanzen anzubauen
Schmutzige Blechtonnen und Plastikbehälter unter einer Plane
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Kanister mit Benzin, Säcke mit Kalk und allerlei andere „Zutaten“ – in seiner „Drogenküche“ stellt Rodrigo die Kokapaste her
Schmutzige Blechtonnen unter einer Plane
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In den Blechtonnen werden die Blätter für die Paste angesetzt…
Schmutzige Blechtonnen und Plastikflasche
ORF/Rainer Mostbauer
… und mit allerlei Chemikalien gemischt
Kokabauer schüttet etwas von einem Kübel in einen Anderen
ORF/Rainer Mostbauer
Für seine Kinder wünscht sich Rorigo einen „ordentlichen“ Job – in der Stadt
Hütte eines Kokabauern
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Auch seine Frau träumt von einem anderen Leben
Kokabauer rührt etwas an
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Rodrigo selbst hat die Hoffnung auf ein solches aber längst aufgegeben

Von der billigen Paste zum teuren Pulver

Oftmals aus Mangel an Alternativen, weil es für viele schlichtweg die einzige Möglichkeit zum Überleben bietet, kultivieren sie klandestin ihre Pflanzen. Aus den feingliedrigen Blättern des Kokastrauchs, dem Erythroxylum coca, gewinnen sie den Rohstoff für die Droge: das Alkaloid.

Einer dieser Kokabauern ist Rodrigo, dessen Name in Wahrheit natürlich ein ganz anderer ist. Viermal im Jahr erntet er die Blätter, die er zu einer grünlich-grauen Kokapaste verarbeitet und an FARC-Rebellen verkauft.

In städtischen Kokalaboren wird die Paste dann zu jenem illegalen weißen Pulver weiterverarbeitet, das in reichen Länder durch eng gerollte Dollar-Scheine gezogen wird. Das Geld, das Rodrigo für seine Arbeit bekommt, reicht hingegen gerade einmal aus, um seine Familie zu ernähren. „Für mich bleibt sehr wenig, gerade einmal so viel, um zu überleben.“ Es sei ein Leben ohne Perspektiven und ohne Hoffnung.

Blätter eines Kokastrauchs
ORF/Rainer Mostbauer
Erythroxylum coca: Der Kokastrauch, aus dessen Blättern der Rohstoff für die Droge, das Alkaloid, gewonnen wird

Kolumbien als weltweit größter Kokainproduzent

Klar ist: Kokabauern wie Rodrigo mit seinem weit unter dem Durchschnitt liegenden Jahresgehalt von etwa 2.000 Euro zählen eindeutig nicht zu den Gewinnern der Geschichte. Vom Handel mit dem „weißen Gold“, einem Markt in Milliardenhöhe, profitieren vor allem die kriminellen Kartelle. Die Narkoterroristen und Kokainbarone, von denen man sich erzählt, dass sie ihre Geldbündel nicht mehr zählen, sondern wiegen. Und deren Macht bis in die Wurzeln des Staates vordringen.

Buchhinweis

Roberto Saviano: „Zero Zero Zero. Wie Kokain die Welt beherrscht“. dtv, 481 Seiten, 13,90 Euro.

So schreibt auch Roberto Saviano in seinem Buch „Zero Zero Zero. Wie Kokain die Welt beherrscht“: „In einem Land, in dem der Drogenhandel die umsatzstärkste Wirtschaftsbranche darstellt, zählt der mächtigste Boss dieser Branche mehr als ein Minister.“

Europol zufolge werden in Kolumbien jährlich 2.000 Tonnen Kokain produziert. Zwei Millionen Kilo Kokain, das grammweise für einen hohen zweistelligen Betrag verkauft wird. Berichten zufolge kommen mehr als sechzig Prozent des weltweit konsumierten Stoffs aus Südamerika, 40 aus Kolumbien. Das macht Kolumbien zum größten Kokainproduzenten der Welt. Und Koks zum wichtigsten Exportgut des Landes.

Über den Atlantik nach Antwerpen

Ein Großteil des weißen Pulvers findet seinen Weg in bunten Containerschiffen nach Europa. Über den Atlantik in die großen Häfen, nach Antwerpen, nach Rotterdam. Trotz Pandemie sind 2020 laut europäischem Drogenbericht rund 215 Tonnen Kokain sichergestellt worden. 2021 waren es 240 Tonnen. Ein Höchstwert und ein Bruchteil zugleich.

„Die Ermittler sagen immer wieder, dass sie nur zehn Prozent des für den europäischen Markt bestimmten Kokains beschlagnahmen. Es ist extrem schwierig, im Körper geschmuggelte Kokainkapseln aufzuspüren. Es ist schwierig, Schiffe abzufangen, die auf hoher See unterwegs sind oder bei Nacht irgendwo vor der Küste haltmachen“, so Saviano.

Polizist öffnet ein Kokain-Packet mit Messer
Reuters/Colombian Navy
Koks gilt als wichtigstes Exportgut Kolumbiens – nur ein Bruchteil kann sichergestellt werden

Drogenschmuggel lässt sich kaum aufhalten

Der belgischen Zollbeamtin Florence Angelici zufolge sei Kokain „das größte Problem in Antwerpen“. Auch der niederländische Journalist und Forscher Teun Voeten meint: „Der Hafen von Antwerpen ist bei kriminellen Organisationen der beliebteste Einfuhrhafen.“ Es sei „unmöglich“, die „Millionen von Millionen“ der ankommenden Container zu kontrollieren. Ein Container mit Obst, ein Container mit Obst und Kokain, ein Container mit einem Folterstuhl.

Patrouilleschiffe, Flugzeuge der Küstenwache, Durchsuchungsteams, Taucher, intelligente Computersoftware und hochprofessionelle Röntgengeräte, all das vermag es kaum, die kriminellen Machenschaften aufzuhalten, die mit dem Drogenschmuggel einhergehen.

Und so wird das Kokain weitergereicht, in die Hände jener Drogenschmuggler, die den Stoff auf den Rest Europas verteilen. Meist in „Body Packs“, also in kleinen in Kunststoff gewickelten Kokspäckchen in ihren Körpern. So schaffen es die Kuriere über die Grenzen. Nach Deutschland, Frankreich, bis nach Österreich.

Belgische Zollbeamte durchsuchen den Laderaum eines LKWs
AFP/Francois Walschaerts
Belgische Zollbeamte bei der Durchsuchung eines Containers im Hafen von Antwerpen

„Ich sag immer Gift, wenn es um Drogen geht“

„Jeder weiß, wie sein Körper funktioniert. Aber was glauben Sie, wie viel kann man in seinem Körper verstecken?“ Der Rekordhalter habe rund zwei Kilo „Gift“ geschafft. Gift, Koks. Wenn es um Drogen geht, spricht Daniel Lichtenegger immer von Gift. Dealer sind für ihn Mörder auf Zeit.

Kennengelernt hat er den Suchtmittelhandel auf der Straße, jetzt, in seiner Funktion als Leiter des Büros zur Bekämpfung der Suchtmittelkriminalität, sei er ja „mehr Schreibtischtäter“, sagt Lichtenegger, nicht ohne zu schmunzeln. Denn nun legt er den kriminellen Gruppen von seinem Büro in Wien-Spittelau aus das Handwerk.

Darknet und Messengerdienste für den Vertrieb

Die Zeiten hätten sich aber ohnehin stark geändert. Beim Vertrieb spielen mittlerweile Darknet, Messengerdienste und Social Media eine bedeutende Rolle. Die Nachrichten auf diesen Plattformen geben tiefe Einblicke in menschliche Abgründe: „Was man da schwarz auf weiß sieht, zeigt das Potenzial dieser kriminellen Gruppen, die vor nichts zurückschrecken.“

Bilder, Videos und Audiofiles würden belegen, wie Leute gefoltert, erstochen und erschossen werden. In der Welt, aber auch in Österreich. „Wir sind schon lange keine Insel der Seligen mehr“, sagt Lichtenegger. „Das ist manchmal wirklich wie in einem schlechten Film.“

Daniel Lichtenegger, Leiter des Büros zur Bekämpfung der Suchtmittelkriminalität
ORF.at/Tamara Sill
Lichtenegger, der Leiter des Büros zur Bekämpfung der Suchtmittelkriminalität im Bundeskriminalamt, sieht in Drogen das „Grundübel der Gesellschaft“

Kartelle als Unternehmen, Geschäftsmänner als Täter

Und noch etwas habe sich geändert: Die kriminellen Gruppen würden mittlerweile nicht mehr aus afrikanischen Ländern, sondern aus dem Westbalkan stammen. „Vor allem Serben sind jetzt die Nummer eins“, erklärt der Brigadier. „Die sind sehr straff organisiert. Also wie ein sehr gut aufgestelltes Unternehmen, muss man schon fast sagen.“

Die Täter? „Geschäftsmänner“. Konsumenten? Quer durch alle Gesellschaftsschichten.

Ein Gramm gibt es in Wien bereits ab 50 Euro. In der Szene „Wiener Linien“ genannt. Streckmittel wie das tierische Entwurmungsmittel Levamisol inklusive. Mögliche Nebenwirkungen seien Blutungen der Mund-, Nasen-, Rachen-, Genital- und Analschleimhaut, erklärt der Suchtmittelexperte.

Von FBI bis Polizei

Im Gespräch verweist Lichtenegger immer wieder auf die Vielfalt des Drogenhandels: „Du hast Begleitdelikte. Beschaffungskriminalität, Raub, Gewalt, Finanzdelikte.“ Dazu komme die internationale Zusammenarbeit mit Europol, Interpol, der UNO-Drogenbehörde (UNODC), den Ratsarbeitsgruppen in Brüssel, EU-Mitgliedsstaaten, der US-amerikanischen Drogenvollzugesbehörde DEA, dem Heimatschutzministerium DHS sowie dem FBI.

In Österreich seien rund 660 Beamte und Beamtinnen und somit rund zwei Prozent der Exekutive primär für die Bekämpfung der Suchtmittelkriminalität zuständig. Deren Anteil beträgt rund neun Prozent der Gesamtkriminalität.

Wien, Spittelau, Bundeskriminalamt
ORF.at/Tamara Sill
Laut Bundeskriminalamt sind in Österreich rund 660 Beamtinnen und Beamte für die Bekämpfung der Suchtmittelkriminalität zuständig

„Räuber und Gendarm“-Spiel

„Das ist auch ein Spiel, zwischen Gut und Böse auch ein bisschen.“ Ein „Räuber und Gendarm“-Spiel. „Wenn du einen Fehler machst, dann kann das Spiel in der Sekunde verloren sein.“ Ob er sich als einer der Guten sieht? „Zu hundert Prozent.“ Schließlich sei es manchmal auch die Aufgabe der Polizei, Personen vor sich selbst zu schützen. Manche mehr als andere.

„Wir sind Menschen, und Menschen sind nicht immer vernünftig. Ich kenne genug Ausformungen, was Leute anrichten, wenn sie drauf sind. Die würden ihre Mutter umbringen für einen Schuss, weil sie außer Kontrolle sind.“ Für Lichtenegger sind Drogen ein Grundübel der Gesellschaft. Wenn auch eines, das nie ganz verhindert werden könne, wie er zugibt.

Kokain als zweithäufigste konsumierte Droge in EU

Aktuelle nationale wie internationale Drogenberichte scheinen ihm recht zu geben. Von einer Rekordverfügbarkeit von Kokain ist etwa im aktuellen Jahresbericht der Drogenbeobachtungsstelle der EU (EMCDDA) zu lesen. Auch laut Europol wird in Europa heutzutage mehr Kokain angeboten als je zuvor.

Mit Folgen: Im Vorjahr nahmen rund 3,5 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger Kokain, also 1,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das macht Kokain nach Cannabis zur zweithäufigst konsumierten Droge in der EU. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Österreich. 2015 gaben drei Prozent an, Kokain konsumiert zu haben. 2021 waren es sechs Prozent.

Aber warum konsumieren Menschen überhaupt Kokain? Savianos Antwort: „Mit Kokain kannst du alles erreichen. Bevor Kokain dein Herz stillstehen lässt und dir die Birne zermatscht, bevor du keinen mehr hochkriegst und dein Magen ein eiterndes Geschwür wird, wirst du mehr arbeiten, dich mehr amüsieren und mehr ficken können als jemals zuvor. Kokain ist die erschöpfende Antwort auf das dringendste Bedürfnis unserer Zeit: die Aufhebung von Grenzen.“

Wien, Ringstraße, Gesundheit Österreich GmbH
ORF.at/Tamara Sill
Den gestiegenen Kokainkonsum hat man auch hier in der Gesundheit Österreich GmbH unter genauer Beobachtung

Die Frage nach der Sucht

Eine Entwicklung, die man auch in der der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) an der Wiener Ringstraße, mit Sorge beobachtet. „Den Trend zum Kokain sieht man eigentlich an sehr vielen Indikatoren: neben Bevölkerungsbefragungen, in Anzeigen und Beschlagnahmungen und Abwasseranalysen, dazu noch die Information von den Testangeboten, dass Kokain eigentlich jetzt ziemlich weit vorne ist bei den analysierten Substanzen. Das war früher nicht der Fall“, sagt Martin Busch. Er ist Autor des österreichischen Drogenberichts, Leiter des Kompetenzzentrums Sucht und Experte für drogenbezogene Epidemiologie.

Kokain Wirkung Erklärung

„Freizeitdrogenkonsum“ müsse zwar nicht unbedingt immer in einem problematischen Konsum enden, „wenn ich es aber benötige, um irgendwelche Dinge zu kompensieren, ist man schnell einmal im Behandlungsbereich“. Drogensucht spiegelt für ihn immer auch Probleme des Menschen wider: „Ich denke, es ist durchaus auch ein Indikator, weil man das Leben nicht genießen kann, aus verschiedensten Gründen, dass man dann zu Drogen greift“, so der studierte Psychologe.

Martin Busch, Autor des österreichischen Drogenberichts, Leiter des Kompetenzzentrums Sucht und Experte für drogenbezogene Epidemiologie
ORF.at/Tamara Sill
„Drogen haben sehr viel mit Genuss zu tun oder dem Nicht-genießen-Können“, meint Suchtexperte Busch

„Nie etwas tun, ohne das Risiko abzuschätzen“

Gefährlich wird es vor allem dann, wenn Kokain nicht geschnupft, also durch die Nase gezogen, sondern injiziert wird. „Ab dem Zeitpunkt, wo ich eine Droge intravenös konsumiere, gehe ich viel größere Risiken ein.“ Schließlich sei die aufputschende Wirkung des Stimulans so nicht nur stärker, sondern eben auch schwieriger abzuschätzen. Und endet im schlimmsten Fall mit einer Überdosierung.

Was er nach 20 Jahren Arbeit im Suchtbereich daher rät? „Man soll nie etwas tun, ohne das Risiko abzuschätzen.“

Saviano meint: „Kokain ist der Sprit des Körpers. Das Leben wird in die dritte Potenz erhoben, bevor es dich verbraucht und zerstört. Doch für dieses potenzierte Leben, das dir scheinbar geschenkt wird, zahlst du Wucherzinsen.“