Ein verführerisch schillerndes Wesen gleitet über die Wand. Die Projektion lässt erkennen, wie das Geschöpf sich über eine nasse Schicht fortbewegt. Es handelt sich um eine Amöbe, die für diese Aufnahme auf das 40.000-fache vergrößert wurde. Auch im Raum hängt ein Modell aus Papiermaschee, das einen Einzeller als riesig darstellt. Die Installation stammt von der Künstlerin Sonja Bäumel, die Österreich auf der 23. Triennale Milano vertritt. In ihrer Arbeit „Entangled Relations – Animated Bodies“ hinterfragt sie die Sonderstellung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen.
Das diesjährige Motto der bis Dezember laufenden Triennale lautet „Unknown Unknowns. Introduction to Mysteries“. Im Mailänder Palazzo dell’Arte, in dem ganzjährig Ausstellungen rund um Kunst, Design und Architektur zu sehen sind, zeigen 20 Länder ihre Präsentationen zur Thematik des Unbekannten. Die Triennale gilt als eine der weltweit wichtigsten Veranstaltungen im Bereich Design und Architektur.
Nach einer internationalen Ausschreibung beteiligen sich 2022 erstmals auch sechs afrikanische Länder an der alle drei Jahre stattfindenden Crossover-Schau. Außerdem hat die Astrophysikerin Ersilia Vaudo von der European Space Agency (ESA) eine Ausstellung konzipiert.
Von der Mode zur Hautflora
Die interessantesten Beiträge fokussieren auf Fragen der Biodiversität. Lilli Hollein, Direktorin des Wiener Museums für angewandte Kunst (MAK) und Kommissärin des diesjährigen Triennale-Beitrags, und Marlies Wirth, zuständige MAK-Kuratorin, liegen mit dem Projekt von Sonja Bäumel voll im Trend. „Ich beschäftige mich schon seit zehn Jahren mit Mikroorganismen, zum Beispiel mit der Kommunikation von Bakterien“, erzählt die Künstlerin im Interview mit ORF.at.
Ursprünglich kommt die 1980 geborene Wienerin von der Mode, studierte dann aber konzeptuelles Design in den Niederlanden. An der Design Academy Eindhoven entzündete sich ihr wissenschaftliches Interesse zunächst an der Beziehung zwischen Textilien und Hautflora, also den Bakterien und Pilzen auf dem größten menschlichen Organ.
Lebendiger Kunststoff
„Für mich stand damals die Frage im Zentrum, ob wir nicht zu wenig von Kleidung erwarten“, schildert Bäumel ihr Ungenügen am konventionellen Modebegriff. Zum Gamechanger wurde für die Designerin das „Human Microbiome Project“, eine US-amerikanische Forschungsinitiative, die 2012 ihre Ergebnisse zur Identifizierung und Charakterisierung des menschlichen Mikrobioms vorgelegt hat, jener Gemeinschaft von Mikroorganismen, die an allen Körperoberflächen zu finden ist. Damals wandte sich Bäumel der Forschung und der „Bio-Art“ zu.

Bei dieser zeitgenössischen Strömung geht die Kunst ins Labor und bedient sich der Methoden und Erkenntnisse der Biotechnologie. In der letzten Dekade hat die in Amsterdam ansässige Künstlerin vor allem mit lebendigem Material gearbeitet. Dafür legte sie sich auch selbst in die größte Petrischale der Welt, um Bakterienkulturen entstehen zu lassen.
Für Bäumel stehen wir aktuell vor der Herausforderung, den Glauben an unsere überlegen-privilegierte Position aufzugeben. „50 Prozent der menschlichen DNA ist nicht human. Wir wissen heute, dass wir sieben bis acht Kilo Mikroben in unserem Verdauungstrakt haben. Wie gehen wir mit diesem neuen Selbstbild um? Wer sind wir überhaupt? Können wir den Körper als ein flüssiges Ökosystem ansehen?“, formuliert die Künstlerin zentrale Fragen.
Wenn Mikroben shaken
Im Zuge ihrer Personale im Frankfurter Kunstverein 2019 arbeitete Bäumel erstmals mit der Tänzerin Doris Uhlich zusammen. Für die Triennale haben sie gemeinsam eine Choreografie mit den ausgestellten Einzellern entwickelt. Die Amöbe riesengroß, der Mensch klein: Am Beginn ihrer Performance hockt Uhlich am Boden, die langen Haare verdecken ihren nackten Körper.
Von diesem Bild, das an eine archaisch-selbstgenügsame Erdmutter erinnert, entfaltet sich nach und nach eine Kontaktaufnahme mit den beiden Mikro-Makro-Wesen im Raum. Dabei greift sich Uhlich immer wieder ins Volle ihres eigenes Fleisches, lässt es wackeln und bringt gewissermaßen die eigenen Mikroben zum Shaken. Am Ende ihres intensiven Auftritts sieht es so aus, als würde die Tänzerin sich mit der als Projektion heranrückenden Amöbe versöhnen.

„Mein Ansatz ist, dass wir diesen Organismen anders begegnen, sie anders verstehen müssen“, betont Bäumel, deren Arbeit auch wissenschaftskritische Ansätze hat. Übrigens: Das Vergrößerungsvideo „Amoeba“ aus Blümels Installation stammt von dem holländischen Künstler und „Mikrofotografen“ Wim van Egmond, der daran monatelang gearbeitet hat.
Zur Eröffnung der Triennale am Mittwoch wurden die diesjährigen Preise bekanntgegeben: Der Pavillon der Niederlande wurde mit dem „International Bee Award“ prämiert. Das Projekt „Have we met? Humans and non-humans on common ground“ untersucht Chancen für Biodiversität an drei Orten – einem urbanen Wohnblock, einer Bohrinsel in der Nordsee und einem Bauernhof im Osten Hollands.
Gefährdete Fische
Eine weitere Auszeichnung ging an den Beitrag von Kenia, der die Verschmutzung der Gewässer thematisiert. Die französisch-brasilianische Künstlerin Louise Manzon hat dafür Skulpturen geschaffen, in denen Glaskugeln über großen Fischköpfen hängen. Dass es sich bei den Flüssigkeiten darin um toxische Substanzen wie zum Beispiel Pestizide handelt, erfährt man aus den Wandtexten. Insgesamt dominieren in den Länderpavillons der Mehrspartentriennale, bei denen dieses Jahr erstmals auch Roma und Sinti vertreten sind, Künstlerinnen und Künstler.
Als Vertreter zeitgenössischer Architektur wurde Francis Kere eingeladen, der 2022 mit dem Pritzker-Preis die international höchstdotierte Auszeichnung in seinem Feld gewonnen hat. Der aus Burkina Faso stammende und in Berlin ansässige Architekt wurde für seinen Einsatz traditioneller Handwerkstechniken wie etwa Holzbau bekannt.
Außerdem hat er gemeinsam mit Christoph Schlingensief das Operndorf Afrika geplant. Auf der Triennale präsentiert Kere eine spiralförmige, begehbare Installation aus Ziegeln, die mit traditioneller Wandmalerei aus Burkina Faso geschmückt wurde. Eine überraschend einfache Konstruktion, die auf Nachhaltigkeit in Zeiten des Klimawandels pocht.
Großspurige Hauptschau
Ganz anders dagegen die Hauptschau der Triennale, in der die New Yorker Architekten SOM Entwürfe für eine Besiedelung des Weltraums präsentieren. Die im Ausstellungstitel proklamierte „Einführung in die Mysterien“ entpuppt sich als Mix aus großspurigen Kunstinstallationen und historischen Exponaten, deren Zusammenhang vage bleibt.
Der Blick in unbekannte Galaxien, den die Astrophysikerin Ersilia Vaudo vorschlägt, kommt zwar zeitgleich mit den neuen Aufnahmen des „James Webb“-Weltraumteleskops. Aber angesichts der drängenden Probleme auf unserem eigenen kleinen Planeten erscheint der hier präsentierte Griff nach den Sternen wenig ratsam.