Italiens Ministerpräsident Mario Draghi
Reuters/Ronen Zvulun
Regierungskrise in Italien

Staatschef lehnt Draghis Rücktritt ab

Italiens Ministerpräsident Mario Draghi kündigt seinen Rücktritt an, doch Staatschef Sergio Mattarella ist dagegen. Stattdessen forderte dieser Draghi auf, dem Parlament Bericht zu erstatten und die Lage zu bewerten. Grund für die Regierungskrise ist der Boykott einer Vertrauensabstimmung durch den Koalitionspartner Fünf Sterne.

Mattarella habe „den Rücktritt nicht akzeptiert und den Ministerpräsidenten aufgefordert, eine Erklärung vor dem Parlament abzugeben“, teilte der Präsidentenpalast am Donnerstagabend mit. Der Staatschef ist gegen frühzeitige Neuwahlen. Laut Medienberichten plant Draghi, kommende Woche eine Parlamentsmehrheit ohne die Fünf-Sterne-Bewegung zu suchen. Schon mit der bisherigen Vielparteienregierung hätte er die nötige Mehrheit gehabt – auch ohne die Fünf Sterne.

In seiner Rücktrittsankündigung hatte Draghi zuvor erklärt, die Voraussetzungen für eine Fortführung der Regierungskoalition seien „nicht mehr gegeben“, der „Vertrauenspakt, auf dem diese Regierung beruhte“, habe sich „aufgelöst“. Zwar hatte seine Regierung zuvor im Senat – der kleineren Kammer im italienischen Zwei-Kammern-Parlament – ein milliardenschweres Hilfspaket, mit dem ein Vertrauensvotum verbunden war, durchgebracht, jedoch blieben die Sterne-Senatoren der Abstimmung fern und sprachen damit der Regierung ihr Vertrauen nicht aus.

Voraussetzungen „existieren nicht mehr“

„In den letzten Tagen habe ich mich bemüht, den gemeinsamen Weg fortzusetzen und sogar versucht, die Forderungen der politischen Kräfte an mich zu erfüllen. Wie die heutige Debatte und Abstimmung im Parlament zeigt, haben diese Bemühungen nicht ausgereicht“, sagte der 74 Jahre alte, parteilose Ministerpräsident.

Draghi hatte sein Amt angetreten, nachdem die Regierungskoalition seines Vorgängers, des heutigen Fünf-Sterne-Chefs Giuseppe Conte, auseinandergebrochen war. Draghi, der zuvor bis 2019 die Europäische Zentralbank (EZB) geleitet hatte, stand einem Bündnis aus Parteien von links bis rechts außen vor, das die Coronavirus-Krise und die daraus folgende Wirtschaftskrise bewältigen sollte.

ORF-Korrespondentin Vospernik analysiert die Regierungskrise

ORF-Korrespondentin Cornelia Vospernik kommentiert aus Rom das von Präsident Mattarella zurückgewiesene Rücktrittsgesuch von Ministerpräsident Mario Draghi.

Nach Draghis Ansicht wäre seine Koalition ohne Beteiligung der Fünf Sterne keine Einheitsregierung mehr – und würde somit nicht mehr seinem Regierungsauftrag entsprechen. Draghi bekräftigte diese Ansicht auch in seiner Rücktrittserklärung. Er habe seit seiner Antrittsrede im Parlament „immer gesagt, dass diese Regierung nur fortbesteht, falls sie eine Aussicht darauf hat, das Programm umzusetzen, für das ihr die beteiligten Parteien das Vertrauen ausgesprochen haben“. Diese Voraussetzungen „existieren nicht mehr“.

Abstimmung über milliardenschweres Hilfspaket

Bei dem Votum am Donnerstag ging es um ein Konjunkturpaket im Umfang von 23 Milliarden Euro, das Familien und Unternehmen bei der Bewältigung der Inflation helfen soll. Die Fünf Sterne forderten aber unter anderem den Erhalt der 2019 eingeführten Mindestsicherung für Einkommensschwache, die die Regierung Draghi ab dem kommenden Jahr abschaffen will. Sie verlangten außerdem die Einführung eines gesetzlich festgelegten Mindestlohns von neun Euro pro Stunde netto und stemmten sich gegen Pläne für den Bau einer großen Müllverbrennungsanlage in Rom.

Abstimmung im italienischen Parlament
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Stein des Anstoßes war das Fernbleiben des Koalitionspartners Fünf-Sterne-Bewegung bei einer Abstimmung im Senat

„Heute nehmen wir nicht an der Abstimmung dieses Gesetzesdekrets teil“, hatte die Fraktionschefin der Fünf-Sterne-Senatoren, Mariolina Castellone, vor dem Votum angekündigt. Sie begründete das damit, dass das geplante Konjunkturpaket nicht ausreichend auf die Bedürfnisse des Landes eingehe. Die Fünf-Sterne-Bewegung war mit 32 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl 2018 hervorgegangen. Seitdem ist sie in den Umfragen aber auf Werte um zehn Prozent abgestürzt.

Meinungsverschiedenheiten wegen des Ukraine-Kriegs führten außerdem zu einem Bruch innerhalb der Partei. Auf Initiative des ehemaligen Vorsitzenden der Bewegung und amtierenden Außenministers, Luigi di Maio, bildeten rund ein Drittel der Fünf-Sterne-Abgeordneten Ende Juni eine eigene Parlamentsfraktion.

Neuwahlen oder nicht?

Die italienischen Sozialdemokraten (PD – Partito Democratico) hoffen noch auf eine politische Lösung, die Draghi die Fortsetzung des Regierungskurses bis Ende der Legislatur im kommenden Frühjahr erlaube. „Wir müssen prüfen, ob die Mehrheit weitermachen kann oder nicht, und das kann nur im Parlament geschehen“, so der PD-Chef Enrico Letta. „Ich glaube, dass in diesem Moment der Fortbestand der Regierung sehr wichtig wäre und wir werden im Parlament unseren Vorschlag einbringen. Draghis Regierung hat gut gearbeitet und muss weitermachen“, sagte Letta.

Anders sehen die Lage die Rechtsparteien, die auf Parlamentswahlen im Oktober drängen. „Die Lega hat sich eineinhalb Jahre lang loyal, konstruktiv und großzügig verhalten, aber seit Wochen sind Draghi und Italien Opfer der Vetos der Fünf-Sterne-Bewegung und der PD geworden. Es ist undenkbar, dass Italien in einem so dramatischen Moment wochenlang gelähmt bleibt. Niemand sollte Angst vor Neuwahlen haben“, kommentierte die Lega. Sie ist mit der Forza Italia um Ex-Premier Silvio Berlusconi im Regierungsbündnis.

Einzige Oppositionspartei ist die Rechtskraft „Brüder Italiens“ (FdI – Fratelli d’Italia), die auf Neuwahlen pocht. Parteichefin Giorgia Meloni, aufsteigender Stern am europäischen Populistenfirmament, hofft auf einen Wahlsieg. Laut Umfragen könnte Melonis Partei mit über 20 Prozent bei Neuwahlen als stärkste Einzelpartei abschneiden.

Vorgezogene Wahlen im Herbst wären jedoch ungewöhnlich, weil in dieser Zeit traditionell der Haushalt vorbereitet wird, der bis Ende des Jahres verabschiedet werden muss. Draghis Regierung ist bereits das dritte Kabinett in dieser Legislaturperiode. Die nächste reguläre Parlamentswahl in Italien stünde kommendes Frühjahr an.

Auswirkungen auf Finanzmärkte

Die italienischen Unternehmerinnen und Unternehmer reagierten empört auf die Regierungskrise. „Wir beobachten mit völliger Ungläubigkeit die politischen Entwicklungen. Es werden Verpflichtungen ignoriert, die die Regierung eingegangen ist. Diese totale Verantwortungslosigkeit hinterlässt uns sprachlos“, kommentierte Carlo Bonomi, Präsident des Industrieverbands Confindustria.

Der wichtigste Aktienindex an der Mailänder Börse gab zwischenzeitlich um mehr als drei Prozent nach. Auch der Ausverkauf bei italienischen Staatsanleihen beschleunigte sich weiter. Die politische Unsicherheit fällt in eine Zeit, in der Italien mit mehreren Herausforderungen zu kämpfen hat, darunter eine Abhängigkeit von russischem Erdgas sowie eine Dürre im Land. In der EU werde die Entwicklung in Italien mit Besorgnis und Erstaunen verfolgt, sagte Wirtschaftskommissar und früherer Ministerpräsident von Italien, Paolo Gentiloni.