Zerstörte Schule in der Ukraine
Reuters/Nacho Doce
Angriffskrieg

Verstärkte Kämpfe in Ostukraine erwartet

Im Osten der Ukraine zeichnet sich eine Verstärkung der russischen Angriffe ab. Sie wurden nicht nur von Russland angekündigt, Beobachter und die Ukraine selbst sehen bereits erste Anzeichen dafür. Am Samstag bestätigte Moskau einen Raketenangriff auf die ukrainische Millionenstadt Dnipro, es gab zahlreiche Tote auch bei weiteren Angriffen. Aus London hieß es unterdessen, Moskau übertreibe bei den eigenen Erfolgen.

Am Samstag ordnete Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei einer Truppeninspektion eine Verstärkung der Angriffe in der Ukraine an. Damit solle verhindert werden, dass die Regierung in Kiew mögliche schwere Raketen- und Artillerieeinsätze auf zivile Ziele im Donbas und in anderen Regionen starten könne, heißt es auf der Internetseite des Ministeriums. Allerdings nimmt Russland selbst zivile Infrastruktur und die ukrainische Bevölkerung ins Visier, Tausende Menschen sind im Zuge des russischen Angriffskrieges getötet worden.

Hinweise für eine Verstärkung der Kämpfe sahen auch die Militärexperten des in den USA angesiedelten Institute for the Study of the War (ISW). Es gebe Anzeichen, dass die russischen Truppen die Verschnaufpause beendeten, die sie nach der Einnahme des Ballungsraums Sjewjerodonezk/Lyssytschansk eingelegt haben, hieß es in der Analyse des ISW am Samstag. Für den Fall erwarte man verstärkte Angriffe binnen der kommenden 72 Stunden. Derzeit handle es sich noch um kleinere Gefechte.

Der Generalstab in Kiew teilte unterdessen mit, die Ukraine habe in den vergangenen 24 Stunden russische Sturmversuche in Richtung Bachmut und vor Donezk abgewehrt. Bereits zuvor hat der Generalstab mitgeteilt, dass die russischen Streitkräfte nach einer Umgruppierung ihrer Kräfte die Angriffe im Osten des Landes wieder verstärkt hätten. Ziele waren am Samstag unter anderem Tschuhujiw im Nordosten und Nikopol im Südosten des Landes.

Zahlreiche Tote bei russischen Angriffen

Bei dem Luftangriff auf Tschuhujiw in der Region Charkiw seien drei Menschen getötet worden, teilte der Gouverneur der Region auf Telegram mit, drei weitere wurden verletzt. Mindestens drei Tote gab es auch in Dnipro, dazu über ein Dutzend Verletzte. In Nikopol wurden nach Angaben des dortigen Rettungsdienstes und des Regionalgouverneurs zwei Menschen getötet.

Freitagabend war in der ganzen Ukraine Luftalarm ausgelöst worden. In sozialen Netzwerken kursierten Videos und Fotos, die fliegende Raketen und Rauchwolken etwa in Dnipro zeigen sollen. Der Gouverneur des zentralukrainischen Gebiets Poltawa, Dmytro Lunin, bestätigte Explosionen in Krementschuk. Eine weitere Rakete wurde laut dem Militärgouverneur von Odessa, Maxym Martschenko, über dem südukrainischen Gebiet abgeschossen.

Rauchsäule über Odessa
Reuters/Ukrainischer Katastrophenschutz
Über Odessa war deutlich eine Rauchwolke zu sehen

Nach anfänglichen Misserfolgen im Norden des Landes konnten die russischen Truppen zuletzt durch gewaltigen Artillerieeinsatz im Donbas Geländegewinne erzielen und die für Moskau symbolisch wichtige Eroberung des Gebiets Luhansk vermelden. Durch den Einsatz der HIMARS-Raketenwerfer auf ukrainischer Seite musste das russische Militär in den vergangenen zwei Wochen allerdings empfindliche Rückschläge einstecken, weil hochrangige Kommandopunkte sowie Munitions- und Waffendepots im besetzten Hinterland zerstört wurden.

London: Moskau übertreibt eigene Erfolge

Angaben über russische Erfolge sind nach Ansicht britischer Geheimdienstexperten mit Vorsicht zu genießen. Russland habe zum wiederholten Mal falsche Angaben zu angeblichen Erfolgen bei seiner Invasion in die Ukraine gemacht, hieß es am Samstag in dem täglichen Geheimdienst-Update zum Ukraine-Krieg des Verteidigungsministeriums in London. Umfang und Ausmaß russischer Vorstöße seien weiterhin begrenzt. Die Behauptung der Russen vor einigen Tagen, sie seien etwa in die Stadt Siwersk vorgestoßen, sei nicht wahr.

Grund für voreilige und falsche Behauptungen über Erfolge sei wohl zumindest teilweise der Wunsch, der Bevölkerung zu Hause Erfolge vorzuweisen und die Kampfmoral der eigenen Truppen zu stärken, so das Update weiter. Die Ukrainer hätten hingegen seit dem Rückzug aus der Stadt Lyssytschansk erfolgreich russische Angriffe zurückgeschlagen, sagen die britischen Experten. Die Verteidigungslinie sei seitdem verkürzt und gestärkt worden, was sich als wesentlich erwiesen habe, um der russischen Offensive den Schwung zu nehmen.

Russland bestätigte am Samstag den zuvor von der Ukraine gemeldeten Raketenangriff auf die Industriestadt Dnipro im Osten der Ukraine. Moskau sprach von einem militärischen Ziel des nächtlichen Beschusses. Auf dem Gelände des Rüstungsindustriekonzerns Juschmasch seien Fabrikhallen für die Ersatzteilproduktion und Reparatur ballistischer Raketen vom Typ Totschka-U vernichtet worden, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums. Laut der Militärverwaltung von Dnipro soll außer dem Industriegebiet aber auch eine belebte Straße in der Umgebung getroffen worden sein. Die Angaben lassen sich jeweils nicht unabhängig überprüfen.

Drohnen aus dem Iran für Russland?

Die US-Regierung geht unterdessen weiterhin davon aus, dass Russland iranische Kampfdrohnen erwerben will. Die USA hätten Informationen, wonach eine russische Regierungsdelegation einen iranischen Flughafen für eine Vorführung angriffsfähiger Drohnen besucht habe, sagte ein hochrangiger US-Regierungsvertreter am Samstag am Rande des Besuches von US-Präsident Joe Biden in Saudi-Arabien. Russland wolle die Drohnen „offensichtlich für den Einsatz im Krieg in der Ukraine“. Er fügte hinzu, Russland setze im Nahen Osten auf den Iran. Die USA setzten dagegen auf eine stärker integrierte, stabilere, friedlichere und wohlhabendere Region.

Laut der Kiewer Atombehörde nutzt Russland Europas größtes Atomkraftwerk nahe der Stadt Saporischschja unterdessen als Basis für die Lagerung von Waffen, einschließlich „Raketensystemen“, und für den Beschuss umliegender Gebiete in der Ukraine. „Die Besatzer bringen ihre Geräte dorthin, darunter auch Raketensysteme, mit denen sie die andere Seite des Flusses Dnipro und das Gebiet von Nikopol beschießen“, so der Präsident der staatlichen ukrainischen Atombehörde Energoatom, Pedro Kotin, in einem Fernsehinterview. Das Kernkraftwerk im Südosten ist von russischen Truppen besetzt worden, wird aber weiterhin von ukrainischem Personal betrieben.

Zerstörtes Wohnhaus in der Ukraine
Reuters/Ukrainischer Katastrophenschutz
In Nikopol wurde ein Wohnhaus bei den russischen Angriffen getroffen

Selenskyj ruft zur Wachsamkeit auf

Die Ukraine erhielt nach eigenen Angaben unterdessen ein neues Raketenwerfersystem aus dem Westen. „Keine Gnade für den Feind“, so Verteidigungsminister Olexij Resnikow auf Twitter. Die M270-Systeme würden den US-amerikanischen HIMARS „auf dem Schlachtfeld gute Gesellschaft“ leisten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief die Bürger und Bürgerinnen der Ukraine zur Wachsamkeit auf. Zugleich warnte er Moskau, dass der bereits seit fast fünf Monaten andauernde Krieg auch in Russland nicht folgenlos bleiben werde.

Die Ukraine werde sich „Menschlichkeit und Zivilisation“ bewahren, sagte er in der Nacht auf Samstag in seiner Videoansprache. Zerstörte Bildungseinrichtungen würden wieder aufgebaut, versprach er. „Aber die russische Gesellschaft mit so vielen Mördern und Henkern wird für Generationen verkrüppelt bleiben – und zwar aus eigener Schuld.“ Angesichts neuer Angriffe auf mehrere Regionen am Abend appellierte Selenskyj einmal mehr an seine Landsleute, den Luftalarm nicht zu ignorieren.