Italiens Premierminister Mario Draghi
Reuters/Valentyn Ogirenko
Italien

Tauziehen um Verbleib von Premier Draghi

Der Mittwoch gilt in Italien als Lostag – dann soll sich entscheiden, ob Mario Draghi als Regierungschef weitermacht oder tatsächlich zurücktritt. Einige politische Vertreter und Vertreterinnen wittern ob einer möglichen Neuwahl bereits Morgenluft, die Mehrheit der Italiener und Italienerinnen lehnt diese Option allerdings ab. Nun mehren sich Stimmen, die Draghi zum Bleiben überreden wollen, etwa mit einer Petition.

Seit Tagen beherrscht die Debatte über die Regierungskrise und eine mögliche Neuwahl die ohnedies immer wieder sehr fragile Politik in Italien. Die Bürger und Bürgerinnen des Landes sind diesbezüglich aber offenbar müde: Laut einer von der römischen Tageszeitung „La Repubblica“ veröffentlichten Meinungsumfrage sind 53 Prozent der Italiener gegen eine Neuwahl im Herbst, wie am Samstag bekannt wurde.

Laut der vom Meinungsforschungsinstitut Izi Spa durchgeführten Umfrage sind zudem 51 Prozent der Befragten für einen Amtsverbleib von Draghi als Premier – allerdings mit einer anderen Koalition als der aktuellen. 55,5 Prozent sind der Meinung, dass im Fall eines Rücktritts Draghis eine Fachleuteregierung eingesetzt werden sollte, die Italien bis Ende der Legislatur im Frühjahr 2023 führe.

Fünf Sterne boykottierten Abstimmung

Das ist Wasser auf die Mühlen all jener Protagonisten, die sich derzeit um einen Verbleib Draghis bemühen. Dieser hatte um seinen Rücktritt bei Präsident Sergio Mattarella angesucht. Auslöser dafür war die Abstimmung über ein milliardenschweres Hilfspaket, das mit einem Vertrauensvotum gekoppelt war. Der Koalitionspartner, die Fünf-Sterne-Bewegung, blieb der Abstimmung fern – Draghi zog daraus die Konsequenzen.

Mattarella lehnte den Rücktritt allerdings ab – und schickte Draghi zurück ins Parlament, wo er am Mittwoch zuerst vor dem Senat und dann vor der Abgeordnetenkammer über die aktuelle Lage berichten soll. Ob Draghi der parlamentarischen Debatte im Anschluss beiwohnt, ist ungewiss, ebenso, ob er am angekündigten Rücktritt festhält. Die politischen Mitstreiter und Gegner bringen sich reihum so oder so in Stellung.

Petition für Verbleib Draghis

Ex-Premier Matteo Renzi, Chef der Kleinpartei Italia Viva, sammelt Unterschriften für eine Petition, die den Premierminister auffordert, mit Ministern seiner Wahl weiterzumachen. Inzwischen sollen bereits 50.000 Menschen die Petition unterzeichnet haben. Auch die Sozialdemokraten (PD) hoffen auf einen Amtsverbleib Draghis. Einer Neuwahl im Herbst nicht abgeneigt sind hingegen die Rechtsparteien Lega und Forza Italia sowie die oppositionelle Gruppierung Fratelli d’Italia, die sich jeweils Vorteile daraus erhoffen.

Auch die Bürgermeister einiger italienischer Großstädte sind wenig angetan von einer Neuwahl. Sie forderten in einem offenen Brief Draghi zum Weiterregieren auf. Das Schreiben unterzeichneten Roms Bürgermeister Roberto Gualtieri, Beppe Sala aus der Metropole Mailand und neun weitere Amtskollegen. Die elf Politiker – hauptsächlich Sozialdemokraten – forderten die Regierungsparteien im Parlament auf, im Interesse des Landes und seiner Probleme zu handeln. Es brauche nun „Stabilität, Gewissheit und Konsequenz“.

Fünf Sterne pochen auf Neun-Punkte-Plan

Die Parteien im Parlament suchen derzeit nach Bündnissen bzw. stellen Forderungen auf. Die Fünf-Sterne-Bewegung verlangte Zugeständnisse für den Verbleib in der Mehrparteienkoalition. Fünf-Sterne-Chef Giuseppe Conte sagte nach einer Sitzung seiner Partei am späten Samstagabend, dass der Boykott kein Nein zur Regierung gewesen sei. Man habe die Abstimmung nicht mitgetragen, weil darin auch der Bau einer Müllverbrennungsanlage in Rom vorgesehen ist – das Hilfspaket ging allerdings auch ohne die Stimmen der Partei durch.

Conte verlangt nun von Draghi, auf die politischen Forderungen eines Neun-Punkte-Papiers der stärksten Einzelpartei im italienischen Parlament einzugehen, das diese vor Wochen vorgelegt hatte. In einem Video auf Facebook erklärte er, dass die Partei „keine Regierungsverantwortung übernehmen kann, wenn keine Klarheit über die Punkte des vorgelegten Dokuments besteht und keine konkreten Hinweise auf die Aussicht auf eine Lösung dieser Fragen vorliegen“. Conte hatte Italien als Premier von Juni 2018 bis Februar 2021 regiert.

Forza und Lega liebäugeln mit Neuwahl

„Wir dürfen der Erpressung derjenigen nicht nachgeben, die das Image Italiens untergraben“, erklärte Antonio Tajani von der konservativen Berlusconi-Partei Forza Italia am Sonntag. „Die Fünf Sterne können nicht weiter in der Regierung bleiben.“ Der Parteichef der mitregierenden Sozialdemokraten, Enrico Letta, erklärte noch am Samstag, er „appelliere an die Fünf-Sterne-Bewegung, am Mittwoch mit dem Willen zu einem Neustart dabei zu sein“.

Lega-Chef Matteo Salvini sagte in einem Video auf Twitter, er hoffe, dass das Land „bald seriöse, ehrliche, konkrete und anständige Parlamentarier“ wählen könne. „Fünf Sterne und Sozialdemokraten blockieren Italien schon seit Langem mit ihrem Gezänk und ihren Forderungen: Die Italiener können es nicht mehr ertragen“, so Salvini.

Warnung vor Lähmung durch Neuwahl

Im Falle einer Neuwahl warnte unterdessen Außenminister Luigi Di Maio vor dem Scheitern wichtiger Reformen und dem Verlust von Geldern für Italien. Selbst wenn Ende September gewählt würde, bräuchte es drei Wochen, um die Parlamentskammern und mindestens weitere zwei Wochen, um die Regierung zu bilden, warnte er im Interview der Zeitung „La Stampa“ (Sonntag-Ausgabe).

In dieser Zeit könnte das Land weder neue Gesetze noch den Haushalt auf den Weg bringen. Auch die wichtigen EU-Milliarden für den CoV-Wiederaufbaufonds stünden auf der Kippe, dazu müsste Italien vorgegebene Ziele in Form von Reformen umsetzen. Di Maio war einst selbst Chef der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung, verließ sie aber unlängst mit Unterstützern im Streit, was die Bewegung in eine Krise stürzte – niedrige Umfragewerte inklusive.

Mattarella bei Neuwahl erneut gefordert

Sollte Draghi wirklich zurücktreten, ist Mattarella gefordert. Er könnte versuchen, eine Übergangsregierung zu bilden, die das Land bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2023 führt. Ob ihm ein neuerlicher Coup wie mit Draghi gelingt, ist fraglich. Mattarella holte Draghi Anfang 2021 aus dem Ruhestand, als die damalige Koalition zerbrach, und beauftragte ihn kurzerhand mit der Bildung einer Regierung, die aus einem Parteienbündnis von links bis rechts außen auf dem Spektrum besteht.

Es sei schwer, sich vorzustellen, wie Italien aus dieser Krise wieder herauskomme, schreibt dazu der „Corriere della Sera" (Sonntag-Ausgabe). Eine vorgezogene Wahl sei legitim in einer Demokratie, man müsse aber die Frage stellen, wie weit das angesichts der offenen Baustellen wie Haushalt, Wiederaufbau nach CoV und dem Ukraine-Krieg sinnvoll sei. „Es obliegt allen Regierungsparteien, ernsthaft zu sagen, ob sie für eine zusätzliche Bemühung um Einheit und Verantwortung verfügbar sind. (…) Es ist ein extremer Versuch, der nützlich sein kann, um Italien in einem geordneten Klima zur Abstimmung zu bringen, das nicht von Wut über die gebrochenen Versprechen dominiert wird.“

Die „Financial Times“ verwies auf die stabilisierende Wirkung Draghis auch im Ukraine-Konflikt, es sei das Beste, er würde bis zum regulären Wahltermin im Frühling 2023 weitermachen. Ein politisches Vakuum in Rom käme zum schlechtesten Zeitpunkt: In Großbritannien werde ein neuer Premier gesucht, in Frankreich habe Präsident Emmanuel Macron keine Mehrheit im Parlament mehr. Italiens Parteien sollten die Reformen Draghis unterstützen, gemeinsam mit der EU und der Europäischen Zentralbank (EZB) müssten sie aber auch für die Zeit nach Draghi arbeiten. Es sei ohnedies „peinlich“, dass es einst für Mattarella und jetzt auch für Draghi keinen Nachfolger gebe.