eine Frau vor geschlossenen Geschäften in einem Einkaufszentrum in St. Petersburg
AP/Dmitri Lovetsky, file
Debatte nimmt Fahrt auf

Kosten und Nutzen der Russland-Sanktionen

Die Sanktionen schaden Europa stärker als Russland – diese Sorge zieht zurzeit nicht nur durch Österreich. Die EU kämpft gegen Inflation und Energiekrise an, die Sanktionen dürften Russlands Wirtschaft aber längerfristig schaden. Russland-Experte Gerhard Mangott kritisiert im ORF.at-Gespräch aber den Mangel an offener Kommunikation mit der Bevölkerung über die Folgen in Europa.

Das Gas fließt, das Gas fließt nicht: Ob die Lieferung nach der Wartung der Pipeline „Nord Stream 1“ wieder anläuft, ist nicht vorherzusehen. Russland pokert mit der Angst der westlichen Gegner vor kalten Heizkörpern. Wie der Kreml seine weitere Reaktion auf die Sanktionen gestaltet, hat das Potenzial, die EU-Staaten einmal mehr zu spalten. Das ist auch das strategische Ziel des Kreml, so Mangott von der Uni Innsbruck zu ORF.at. Dieses Ziel könnte in Moskau als bedeutender eingeschätzt werden als finanzielle und wirtschaftliche Einbußen.

Die Debatte, ob die Strafmaßnahmen gegen den Aggressor ein probates Mittel sind, war nur eine Frage der Zeit. Ungarns Premier Viktor Orban bezeichnete die EU-Sanktionen bereits als Fehler. Man habe sich nicht nur ins Knie geschossen, sondern gar in die Lunge, und nun ringe man nach Luft. In Österreich regte Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer die Diskussion an. Die Sanktionen seien offenbar „nur mit einer Gehirnhälfte“ gedacht worden.

Resilienter als angenommen

Tatsächlich treffen die sanktionsbedingten Einbußen die russische Wirtschaft im Moment nicht so stark, wie der Westen es gehofft hat. Sie erweise sich resilienter als gedacht, so Mangott. Laut offiziellen Zahlen erzielte Russland im ersten Halbjahr einen Budgetüberschuss im Wert von mehr als 20 Milliarden Euro. Der Grund ist der hohe Ölpreis. Dieser und auch die Einnahmen aus dem Gassektor lagen deutlich über Plan.

Im ersten Halbjahr nahm Russland demzufolge durch den Verkauf von Öl und Gas mehr als 100 Milliarden Euro ein, trotz geringerer Ausfuhrmengen. Auch dem Rubel geht es wieder besser, nach einigen fiskalpolitischen Maßnahmen des Kreml ist er sogar so stark wie seit Jahren nicht mehr.

Russische Wirtschaft wird einbrechen

Derweil sind die Zahlen in der EU alarmierend. Krieg und Energiekrise dürften heuer für eine Inflation von 7,6 Prozent im Euro-Raum sorgen, so die aktuelle Prognose der EU-Kommission. Das Wachstum der gesamten EU-Wirtschaft bleibt der Prognose zufolge in diesem Jahr zunächst stabil. Für 2023 korrigierte die Kommission ihre Vorhersagen jedoch deutlich nach unten.

Ist also die Sanktionspolitik ein Schuss ins eigene Knie? Fachleute sehen ein Urteil über diese Frage als verfrüht an. Denn die Maßnahmen der EU zielen vor allem darauf ab, mittel- und langfristig Wirkung zu zeigen. Die EU geht davon aus, dass die russische Wirtschaftsleistung heuer noch um 10,4 Prozent schrumpfen wird, während in der EU noch mit einem Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent gerechnet wird.

Politologe Mangott zum Ukraine-Krieg

Politikwissenschaftler und Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck analysiert die aktuelle Lage in der Ukraine und die Ausweitung der Angriffe durch Russland.

Mittlerweile beträfen zielgerichtete Handelsbeschränkungen die Exportgeschäfte Russlands, berichtete am Freitag die dpa unter Hinweis auf interne Analysen von EU-Experten. Diese Beschränkungen träfen fast die Hälfte der Ausfuhren Russlands in die EU.

Vor allem aber die Exportverbote nach Russland sollen dem Kreml zum Problem werden. Das betrifft im Kleinen etwa einen Mangel an bestimmten Erdäpfeln, der bei Russlands McDonald’s-Kopie „Wkusno i totschka“ für ein Verkaufsende der Pommes frites führte. Westliche Shops sind geschlossen, erst am Montag beschloss die Modekette H&M endgültig ihren Rückzug, so wie viele vor ihr auch schon.

Sowjetmodelle und „Brain Drain“

Im Großen dürfte es vor allem bald Schwierigkeiten bei der Beschaffung von technologischen Gütern, etwa Maschinen, Fahrzeugteilen und Datenspeichern, geben. Schon jetzt lähmt das EU-Ausfuhrverbot für Dual-Use-Produkte (Verwendung für zivile und militärische Zwecke) nach Einschätzung der EU die militärischen Fähigkeiten Russlands. Wichtige Rüstungsfabriken, die zum Beispiel Luft-Luft-Raketen und Panzer produzieren, mussten demzufolge bereits aufgrund des Mangels an Importgütern geschlossen werden.

Zudem treffen die EU-Ausfuhrverbote IT-Unternehmen, Mobilfunkanbieter und besonders die russische Autoindustrie. Sie brach fast zur Gänze ein. Nach dem Weggang westlicher Autohersteller werden in Russland nun sowjetische Marken wie der Moskwitsch wiederbelebt, so die dpa. Russlands zivile Luftfahrt leidet nach EU-Angaben unter dem Verbot, in den europäischen Luftraum fliegen zu dürfen – vor allem aber auch unter den von der EU und den USA erlassenen Ausfuhrbeschränkungen für Ersatzteile und Services.

Auch der „Brain Drain“ ist deutlich: EU-Schätzungen zufolge verließen zuletzt rund 70.000 IT-Spezialisten das Land, weitere 100.000 könnten folgen.

Folgen eines Gasstopps

Merkliche Auswirkungen erwartet man zudem von der Umsetzung des bereits beschlossenen Kohle- und Ölembargos. Das Importverbot für russische Kohle wird am 10. August vollständig wirksam – und betrifft nach Angaben der EU ein Viertel der globalen russischen Kohleexporte im Wert von rund acht Milliarden Euro pro Jahr. Der Wert der russischen Rohölimporte in die EU belief sich 2021 auf rund 48 Milliarden Euro und der von Erdölprodukten auf 23 Milliarden Euro. 90 Prozent davon sollen wegfallen, wenn ab dem 5. Dezember die Einfuhr von russischem Rohöl über den Seeweg verboten ist – und vom 5. Februar an die von verarbeiteten russischen Erdölerzeugnissen.

EU-Gipfel zu Ukraine-Krieg

Die Außenminister- und ministerinnen beraten am Montag über weitere Waffenlieferungen in die Ukraine sowie mögliche neue Sanktionen gegen Russland. Eine Option, die diskutiert wird, ist ein Importstopp von russischem Gold.

Der Wegfall des EU-Marktes wird nach Einschätzung eines Experten erhebliche strategische Probleme für Russland zur Folge haben, weil sich der Staatshaushalt nach EU-Zahlen zu 45 Prozent aus Öleinnahmen speist. Im Moment ist die EU immer noch der weltweit größte Importeur von russischem Öl, wie eine Analyse des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) in Helsinki zeigt. Noch im Juni ging mehr als die Hälfte der russischen Ölexporte nach Europa.

Ein Gasembargo gilt hingegen derzeit in der EU als aussichtslos, weil etliche Staaten wie Österreich zu abhängig sind. Ein tatsächlicher Gasstopp würde die Wirtschaft der EU, und auch besonders jene Österreichs, schwer treffen. „Das würde die Waage wieder neu austarieren“, so Mangott.

Wirkung entfaltet sich erst

Aber auch die russische Wirtschaft würde leiden: Die staatliche Gasprom verliert derzeit ohnehin den größten Teil des europäischen Marktes. Der Energiekonzern braucht aber die Einnahmen aus Europa, um Russland mit billiger Energie versorgen zu können, so Janis Kluge, Russland-Experte der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gegenüber n-tv. Zudem sei er „auch für den innenpolitischen Aufbau Russlands wichtig: Das Unternehmen reicht Gelder weiter an Personen aus der russischen Elite, viele davon aus (Präsident Wladimir, Anm.) Putins direktem Umfeld“, so Kluge. Gasprom wandle sich vom Devisenbringer zum Kostenfaktor. „Russland kann sich das aber erst einmal leisten, weil es noch hohe Einnahmen aus dem Ölgeschäft hat.“ Wie lange, das ist eine offene Frage.

Doch schon jetzt befinde sich Russlands Wirtschaft in einer „massiven Rezession“, sagte Kluge. Man könne davon ausgehen, „dass Russlands Handlungsfähigkeit nach und nach eingeschränkt wird“. Auch Mangott geht davon aus, dass die EU-Sanktionen ihre Wirkung erst entfalten werde. Deren Aufgabe wäre aber, Russland dazu zu bringen, sein Verhalten ändern. „Das ist aber bis jetzt nicht der Fall – auch nicht mittel- bis langfristig.“

Mehr Offenheit erwünscht

Mangott kritisiert, dass man den Menschen nicht klargemacht habe, dass Sanktionen auf eine große Volkswirtschaft wie Russland immer Folgekosten haben. „Das muss von Anfang an klar gewesen sein, spricht aber nicht zwangsläufig gegen Sanktionen.“ Aus einer Angst heraus, die Solidarität mit der Ukraine könne schwinden, habe die Politik hier versäumt, für Klarheit zu sorgen. „Nun kommt das, was man eigentlich vermeiden wollte, mit größerer Vehemenz und Wut: dass die Menschen sagen, sie wollen nicht für die Ukraine frieren.“

Außenminister Schallenberg zu neuen Sanktionen

Waren die Sanktionen nicht zu Ende gedacht, schaden sie am Ende der Europäischen Union mehr als Russland? Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) bezieht Stellung angesichts der wachsenden Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Sanktionspolitik.

Alternativen zu Sanktionen sind für die EU jedenfalls rar. Eine Verhandlungslösung ist derzeit nicht realistisch. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell versuchte am Montag, die Debatte über Kosten und Nutzen der Sanktionen einzufangen, und warf Kritikern Falschinformationen vor. „Ich wünsche mir, dass Menschen eine Zahl hinter jedes ihrer Argumente stellen“, sagte Borrell. Die russischen Wirtschaftsdaten zeigten, wie die Sanktionen wirkten, sagte er.

Ein schnelles neues Sanktionspaket dürfte es nach Mangotts Einschätzung nicht geben. Wenn Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sage, man müsse beim Thema Gasembargo mit Augenmaß vorgehen, hieße das, es werde so bald keine neuen Maßnahmen geben, um keinen Gasstopp zu riskieren, so Mangott. „Ob diese Rechnung so aufgeht, da habe ich Zweifel.“