Mehrere zurückgelassene Koffer in der Ankunftshalle am Flughafen Heathrow in London.
AP/Takuya Matsumoto
„Airmageddon“

Kofferchaos in Flughäfen eskaliert weiter

Auf der ganzen Welt herrscht Chaos in den Flughäfen. Neben langen Wartezeiten und kurzfristigen Flugstreichungen klagen nun immer mehr Reisende über verspätetes oder verlorenes Gepäck. Der Grund dafür ist vor allem ein drastischer Personalmangel bei der Bodenabfertigung, der durch die aktuelle Infektionswelle verstärkt wird. In den nächsten Tagen wird ein weiterer Reisepeak erwartet – erst im Herbst könnte sich die Lage etwas beruhigen.

In Deutschlands größtem Flughafen in Frankfurt blieben nach „Bild am Sonntag“-Informationen bereits täglich bis zu 5.000 Koffer von Lufthansa-Passagieren am Boden zurück. Inzwischen habe sich das Chaos etwas reduziert, doch nach wie vor müssen bis zu 2.000 Gepäcksstücke Passagieren hinterhergeschickt werden. Hinzu kommt, dass für die nächsten Tage wegen des Sommerferienbeginns in Teilen Deutschlands bis zu 200.000 Fluggäste täglich erwartet werden – ein Höchstwert seit Pandemiebeginn.

Auch in Großbritanniens größtem Flughafen Heathrow müssen ankommende Passagiere wegen Überlastung und Unterbesetzung oft stundenlang auf ihre Koffer warten, da ausgehendes Gepäck bevorzugt bearbeitet wird. Bis 11. September soll eine Obergrenze von 100.000 Passagieren am Tag Abhilfe schaffen, Fluggesellschaften sollen den Ticketverkauf für diesen Zeitraum einstellen. Die arabische Fluggesellschaft Emirates kritisierte die Maßnahmen des „inkompetenten“ Londoner Flughafens und sagte, die Branche stehe vor einem „Airmageddon“.

Auch in Australien verliert die Fluggesellschaft Qantas Berichten zufolge zumindest kurzzeitig jedes zehnte Gepäcksstück am regionalen Drehkreuz Sydney, so der „Guardian“. Die Abfertigungsprobleme auf den Flughäfen in Europa und den USA verstärken sich gegenseitig, wenn etwa bei Verspätungen zwar der Passagier den Anschlussflug erwischt, das Gepäck aber hängenbleibt.

Wieder aufgeflammte Reiselust überfordert Flugbranche

Grund für die aktuelle Überforderung ist ein drastischer Personalmangel. Während der Lockdowns hatte die Flugbranche auf der ganzen Welt Stellen abgebaut – die sie nun nicht wieder in dem Tempo besetzen kann, in dem der globale Reiseverkehr wieder zunimmt. Nachdem sich im Frühjahr bereits abzeichnete, dass im Sommer Flugverspätungen und Ausfälle drohen würden, spitzt sich die Situation mit dem Sommerreisepeak und der aktuellen CoV-Infektionswelle beim Personal weiter zu.

Vor allem beim Bodenpersonal sind die Krankenstände laut Lufthansa stark gestiegen – wegen Cov-Infektionen, aber auch wegen Überlastung. „Beim fliegenden Personal in Cockpit und Kabine ist die Quote deutlich geringer im einstelligen Bereich“, sagte ein Konzernsprecher der „Bild am Sonntag“.

„Nachfrage war vorhersehbar“

„Man muss sagen, dass das starke Ansteigen der Nachfrage zu einem Großteil leider vorhersehbar war“, so der Geschäftsführer des österreichischen Dachverbands Luftfahrt, Peter Malanik, gegenüber ORF.at. „Wir haben schon vergangenen Sommer eine Marktforschungsstudie in Auftrag gegeben, die eindeutig gezeigt hat, dass die Bereitschaft der Leute, nach der Corona-Krise wieder zu reisen, groß sein wird.“

„Jede Prognose wurde deutlich überholt, und es fliegen viel mehr Menschen als erwartet. Dafür haben die Flughäfen und Airlines zu wenig Personal auf allen Ebenen“, sagte auch Fraport-Chef Stefan Schulte im Gespräch mit dem „Mannheimer Morgen“. Als besonders kritisch gilt aktuell der Mangel an Bodenabfertigungsdiensten, die unter anderem für die Be- und Entladung des Gepäcks sowie die Betankung und Reinigung des Flugzeugs zuständig sind.

Österreichs Flugbranche profitiert von Kurzarbeit

In Österreich könne der Betrieb aktuell dennoch vergleichsweise problemlos aufrechterhalten werden, da die hiesigen Flugunternehmen vom Instrument der Kurzarbeit profitiert hätten, so der Flughafen Wien Schwechat und Lufthansa-Tochter Austrian Airlines (AUA) auf Nachfrage von ORF.at. Zudem setze man im Vergleich zu anderen Flughäfen bei einem Großteil der passagierrelevanten Prozesse auf eigenes Personal und könne daher die Abläufe und Kapazitäten selbst steuern.

Gleichzeitig werde man aber auch hierzulande zwangsläufig mit den Problemen der globalen Luftfahrtbranche konfrontiert, da „natürlich auch Probleme aus dem Ausland importiert werden“, so Malanik. Die Flugbranche setze sich immerhin aus einem vernetzten System aus Flughäfen, Airlines, Bodenabfertigern, staatlichen Sicherheitskontrolleuren und Fluglotsen zusammen.

„Austrian Airlines hat genug Personal, um den vorgesehenen Sommerflugplan fliegen zu können, ist aber natürlich nicht isoliert von externen Faktoren wie der volatilen Corona-Lage, Streiks bei Systempartnern oder Wetterkapriolen“, so auch die AUA. Am Flughafen Schiphol in Amsterdam etwa konnte aufgrund einer technischen Störung einen Tag lang kein Gepäck aufgegeben werden, wie das „Wall Street Journal“ („WSJ“) berichtete.

Hunderte Stellen müssen besetzt werden

Die stockenden Gepäcksabfertigungen sorgen nicht nur für Stress und Ärger unter den Reisenden, sondern auch unter den Ladern in der Gepäcksabfertigung, die ein gestiegenes Pensum bewältigen und Hunderte Koffer pro Stunde schleppen und stapeln müssen. Die aktuelle Hitze tut ihr Übriges, denn auf dem Vorfeld aus Beton schützt kein Schatten.

Flughafen Arbeiter stehen vor Passagiergepäck
Reuters/Henry Nicholls
Während der Lockdowns wurden in Europa und den USA Stellen beim Bodenpersonal abgebaut, die nun fehlen

Bei Fraport in Deutschland fehlen nach wie vor mehrere hundert zusätzliche Arbeitskräfte am Boden, weshalb an eine Anwerbung türkischer Aushilfen gedacht wird. Bis neue Mitarbeitende eingestellt werden können, dauert es allerdings. „Ich kann hier schwer Mitarbeiter einstellen, die sofort ‚on the job‘ sind“, so Malanik. „Im Innenministerium müssen sicherheitsbedingte Backgroundchecks gemacht werden, und auch die Schulungen dauern.“

Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen

Hinzu kommen Streiks vom Bodenpersonal, das aufgrund der aktuellen Inflation eine Lohnsteigerung verlangt. Die deutsche Gewerkschaft Verdi fordert für die rund 20.000 Beschäftigten der Lufthansa 9,5 Prozent mehr Lohn und wies ein erstes Angebot der Lufthansa als unzureichend zurück. Die nächste Verhandlungsrunde ist für den den 3. und 4. August in Frankfurt am Main geplant.

„Wenn es eine Knappheit bei der Nachfrage dieser Jobs gibt, dann wird es nach marktwirtschaftlichen Grundprinzipien eine Anpassung geben müssen“, so Malanik. Auf der anderen Seite könnten Fluggesellschaften mit den Preisen nicht beliebig nach oben gehen, da Billigflieger wie Ryanair und Wizzair den Preis nach unten drücken würden.

Ein Flughafen Arbeiter beim Verladen von Passagiergepäck
APA/AFP/Koen Van Weel
Unter den Mitarbeitern der Bodenverkehrsdienste steigen unter anderem wegen Überforderung die Krankenstände

Mit Handgepäck auf Nummer sicher

Auf Nummer sicher gehen könne man als Passagier, indem man sich auf Handgepäck beschränke, da dieses gar nicht erst aufgegeben werden muss, so die Empfehlung der AUA. Es sei jedoch auch im Fall von Reisen mit Handgepäck möglich, dass das Gepäck in den Frachtraum verladen werden müsse – etwa dann, wenn kein Platz mehr in den Handgepäcksablagen in der Kabine ist. Zudem muss man hier aufpassen, dass man die vorgeschriebene Größe einhält.

Bleibt ein Gepäcksstück verloren und kann nicht wiederbeschafft werden, steht Reisenden eine Entschädigung von maximal 1.300 Euro pro Kopf zu – wirklich wertvolle Gegenstände sollten deshalb besser im Handgepäck transportiert werden.

Zudem gilt: Um Ansprüche auf Entschädigung für verlorenes oder beschädigtes Gepäck geltend zu machen, muss der Verlust oder die Beschädigung innerhalb von 7 Tagen schriftlich bei der Fluggesellschaft gemeldet werden, bei verspätetem Gepäck innerhalb von 21 Tagen nach Erhalt des Gepäcks.

Entspannung im Herbst möglich

Obwohl der September als traditionell reisestärkster Monat gilt, gibt Malanik für den Herbst Entwarnung: „Die Geschäftsreisenachfrage wird wegen der Pandemie nicht so bald zurückkommen“, so Malanik. „Mittlerweile wird ja auch Personal nachgeschult und neu eingestellt, also ist davon auszugehen, dass sich die Lage im September etwas beruhigen wird.“