Nord Stream 1
APA/dpa/Jens Büttner
„Nord Stream 1“

Turbine als Figur auf Russlands Schachbrett

Seit Tagen wird um den Verbleib der Turbine aus dem Haus Siemens Energy ein großes Mysterium gemacht. Für Russland wurde sie zum Pfand in seinem Agieren gegen den Westen. Für die EU ist aber klar: Das Gezerre um die Turbine ist nur ein Vorwand von Kreml-Chef Wladimir Putin. Das Gas sollte jedenfalls ab Donnerstag wieder fließen.

Eine Turbine sorgt für Aufmerksamkeit: Sie war in der Ostsee-Pipeline „Nord Stream 1“ im Einsatz, wurde aber routinemäßig in Kanada gewartet. Wegen der Sanktionen gegen Russland verblieb sie dort, man wollte das Gerät nicht nach Russland ausführen – für den Kreml ein Anlass, die Lieferungen zu drosseln. Am 14. Juni kündigte Russland an, sie um 40 Prozent zu verringern, am nächsten Tag wurde nochmal ein Minus von 20 Prozent verkündet.

Auf Bitten aus Berlin entschied die kanadische Regierung schließlich, die Turbine an Deutschland zu übergeben. Wo sie sich tatsächlich aktuell befindet, darüber herrscht Schweigen.

Ob nach der Wartung ab Donnerstag wieder Gas nach Europa fließt oder nicht, ist in den Augen der westlichen Verbündeten eine rein politische Frage, und keine technische. Sollten die Lieferungen auch weiterhin ausbleiben, muss Österreich evaluieren, ob die Gasspeicher bis zum Beginn der Heizsaison zu 80 Prozent befüllt werden können. Das sagte Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) am Mittwoch. Das sei das Kriterium für die nächste Stufe im Gasnotfallplan.

„Handelt sich um Ersatzturbine“

Über seine Absichten lässt Putin seine Handelspartner im Dunkeln. Erst in der Nacht zum Mittwoch warnte er, dass die Kapazität der Pipeline weiter fallen könne, wenn das Gerät nicht rechtzeitig zurückkehre. „Es gibt dort zwei funktionierende Maschinen, sie pumpen 60 Millionen Kubikmeter pro Tag“, so Putin. Komme eine nicht wieder zurück nach Russland, „gibt es noch eine, die 30 Millionen Kubikmeter pumpt“. Auch laut dem russischen Staatskonzern Gasprom hängt von dem Gerät „die verlässliche Arbeit der Gasleitung ‚Nord Stream‘ und die Versorgung der europäischen Verbraucher“ ab.

Die Turbine SGT-A65
Siemens AG
Das Modell SGT-A65: Die Konstruktion stammt ursprünglich aus der Luftfahrt

Im Westen wird das bezweifelt, die Wartung derartiger Turbinen werde regelmäßig durchgeführt. „Alle paar Monate werde eine von mehreren zum Einsatz kommenden Maschinen ausgetauscht, ohne dass die Leistung abfalle. Es gebe stets mehrere sogenannte Redundanzen – also andere Turbinen, die die fehlende Leistung auffingen“, zitiert der „Spiegel“ in einer Analyse Experten.

Auch auf politischer Ebene stemmt man sich gegen das russische Narrativ, Europas Versorgung hänge von dieser einen Turbine ab. Jüngst hatte eine Sprecherin des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck (Grüne) betont: „Es handelt sich um eine Ersatzturbine.“

Katz-und-Maus-Spiel geht weiter

EU-Kommissionspräsidentin Ursula sagte von der Leyen betonte am Mittwoch: „Es gibt keinen Vorwand, kein Gas zu liefern.“ Die Turbine sei bereits auf dem Weg aus Kanada zurück. „Es ist nicht die einzige Turbine auf der Welt, die passt. Es gibt identische Turbinen“, sagte sie. Auch die deutsche Regierung spricht von einem „Vorwand der russischen Seite“, technische Gründe für eine Gasdrosselung gebe es nicht.

Doch der Kreml lässt von dem Katz-und-Maus-Spiel nicht ab. Wieso Gasprom nicht mehr Energie durch andere Leitungen schickt, ist nicht erklärt worden. Im Gegenteil: Auch durch andere Pipelines wird weniger Gas nach Europa gepumpt. Russland rechtfertigte diesen Umstand mit „höherer Gewalt“ – also hervorgerufen durch ein von außen kommendes, unvorhersehbares Ereignis, das außerhalb der Kontrolle der Vertragsparteien liegt. Damit will sich Gasprom wohl rechtlich absichern.

Grafik zum Gas-Pipelinenetz in Europa
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ENTSOG

Am Mittwoch ließ der Konzern wissen, ihm fehlten wichtige Dokumente von Siemens, „die es unter den Bedingungen der Sanktionen Kanadas und der EU erlauben“, die Turbine wieder einzubauen, so Gasprom auf Telegram. „Unter diesen Umständen hat Gazprom Siemens erneut gebeten, die Dokumente zur Verfügung zu stellen.“

Weiteres Vorgehen in der Hand des Kreml

Die russische Zeitung „Kommersant“ berichtete am Montag zudem, im günstigsten Fall werde es weitere fünf bis sieben Tage dauern, ehe die Turbine die Arbeit aufnehmen könne. Ist das Gerät einmal in Russland, ist es ohnehin dem Kreml überlassen, wie lange die Arbeiten noch dauern werden. So wird das Turbinendrama weiter hinausgezögert.

Siemens Energy

Das Energiegeschäft von Siemens, Siemens Energy, wurde 2020 ausgegliedert und an die Börse gebracht. Siemens hält nur mehr einen Minderheitsanteil an der Tochtergesellschaft.

Schweigen herrscht auch bei Details zur Turbine selbst, selbst Siemens Energy äußert sich nicht näher dazu, offenbar aus Sorge, sich angreifbar zu machen. Nach Informationen der dpa handelt es sich um das Modell SGT-A65, eine „aeroderivative“ Turbine, deren Konstruktion ursprünglich aus dem Flugzeugbereich stammt. Grundsätzlich können diese Geräte sowohl zur Stromproduktion als auch als Antrieb zum Beispiel für den Gastransport benutzt werden. Im Falle von „Nord Stream 1“ liegt Letzteres nahe. Laut Gasprom wird sie für die Kompressorstation Portowaja benötigt. Siemens Energy hat mit Gasprom einen Wartungsvertrag für diese und weitere Turbinen abgeschlossen, der Eigentümer ist Russland.

Lieferung für Donnerstag angekündigt

Nun ist davon auszugehen, dass die Turbine rechtzeitig am Bestimmungsort Portowaja ankommen kann. Deutschland erwartet nach offiziellen Angaben auch, dass das Gas entsprechend am Donnerstag pünktlich um sechs Uhr Früh wieder fließt. Die Regierung in Berlin verwies am Mittwoch auch auf vertragliche Verpflichtungen von Gasprom. Laut der Betreibergesellschaft der Pipeline, der Nord Stream AG, steht dem nichts im Weg. Auch die heimische OMV ging vom planmäßigen Abschluss aus und dass der Gastransport danach wieder aufgenommen wird, hieß es in einem schriftlichen Statement.

Laut dem deutschen Netzbetreiber Gascade sind für Donnerstag auch tatsächlich Gaslieferungen durch „Nord Stream 1“ angekündigt, wie aus vorläufigen Daten hervorgeht. Gascade betreibt die beiden Empfangspunkte von „Nord Stream 1“ im deutschen Lubmin, für beide Punkte sind laut Gascade-Website Gaslieferungen vorgemerkt. Auf Twitter bestätigte auch der Chef der deutschen Bundesnetzagentur, Klaus Müller, die Ankündigung. Doch auch hier herrscht offenbar Salamitaktik vor: Seien zunächst für Donnerstag 800 Gigawattstunden geplant gewesen, seien nun nur mehr etwa 530 angekündigt. Das wäre eine etwa 30-prozentige Auslastung.

Auch Putin betonte stets, dass Gasprom alle Verpflichtungen erfüllen werde. Die Schuld an etwaigem Gasmangel schob er am Mittwoch dem Westen in die Schuhe. In vielen Ländern sei es bereits „zur Mode“ geworden, etwa im Energiesektor zu spekulieren. „Und der nächste Schritt ist: Sie suchen nach Schuldigen.“ Als Energielieferant werde Russland verantwortlich gemacht, obwohl es damit nichts zu tun habe, so Putin, der sich auch über europäische Energiesparüberlegungen lustig machte.

Zuvor hatte er noch erneut die fertige, aber nicht betriebene Pipeline „Nord Stream 2“ ins Spiel gebracht. Nach der russischen Invasion in die Ukraine wurde die Pipeline auf Eis gelegt, sehr zum Missfallen des Kreml. Erneut spekulieren nun Beobachterinnen und Beobachter, dass Moskau die Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“ erzwingen will. Von der Leyen erteilte aber prompt eine Absage. „Ich möchte hier ganz klar sein: ‚Nord Stream 2‘ ist nicht einmal zertifiziert und überhaupt nicht einsatzbereit“, sagte sie am Mittwoch in Brüssel.