Pipeline-Mitarbeiter vor Bildschirmen in einem Kontrollraum
APA/AFP/Alexander Nemenov
„Nord Stream 1“

Gas fließt wieder, aber „keine Entwarnung“

Nach zehntägigen Wartungsarbeiten fließt wieder russisches Erdgas durch die Pipeline „Nord Stream 1“. In Deutschland geht man davon aus, dass die Pipeline am Donnerstag zu etwa 40 Prozent ausgelastet wird. Auch die OMV meldete, wieder mehr Gas erhalten zu haben. Grund zur „Entwarnung“ gebe es allerdings nicht, sagte Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne).

„Russland schürt ganz bewusst Unsicherheit in Europa. So treibt (der russische Präsident Wladimir, Anm.) Putin die Gaspreise“, sagte Gewessler und verwies darauf, dass die Pipeline nur zu rund 40 Prozent ausgelastet sei. Die Situation bleibe angespannt, Österreich dürfe sich nicht in falscher Sicherheit wiegen.

Die österreichischen Gasspeicher seien derzeit zu etwa 50 Prozent gefüllt. Trotz der Wartung von „Nord Stream 1“ sei auch in den vergangenen Tagen Gas eingespeichert worden. Bis vor Beginn der Heizsaison will die Regierung die Speicher zu 80 Prozent füllen. „Die Expertinnen und Experten gehen aktuell davon aus, dass dieses Speicherziel erreichbar ist und die täglichen Einspeicherungen wieder ansteigen werden“, nachdem der russische Staatskonzern Gasprom wieder Gas über „Nord Stream 1“ liefere, so Gewessler.

Die Regulierungsbehörde E-Control rechnet indes weiterhin damit, das Speicherziel zu erreichen: „Wir gehen nun davon aus, dass wieder mehr Gas in die Speicher hereinkommt“, sagte E-Control-Chef Wolfgang Urbantschitsch im Ö1-Mittagsjournal. Dennoch müsse man die Lage permanent beobachten, man könne sich nicht darauf verlassen, dass der Gasfluss aufrecht bleibt.

Warnung in Deutschland

Ähnlich wie Gewessler äußerte sich auch der Präsident der deutschen Bundesnetzagentur, Klaus Müller. „Es ist nicht das schlimmste Szenario eingetreten, aber von Entwarnung kann ich noch nicht reden“, sagte Müller. Er gab zu bedenken, dass Putin unlängst Aussagen gemacht habe, die auf eine Drosselung auf 20 Prozent hindeuten könnten. „Wir sind Russland momentan ausgeliefert“, weil es darüber entscheide, wie viel Gas durch „Nord Stream 1“ fließe. Umso wichtiger seien Einsparungen und der Bezug aus anderen Quellen.

„Nord Stream 1“ wieder in Betrieb

Nach zehn Tagen Wartungsarbeiten fließt seit Donnerstagfrüh wieder Gas aus Russland Richtung Deutschland. Dennoch besteht die Befürchtung, dass der russische Präsident Wladimir Putin den Gashahn weiterhin als Druckmittel gegen Europa einsetzen könnte.

Kreml macht Sanktionen für Probleme verantwortlich

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow begründete am Donnerstag alle Schwierigkeiten bei der Lieferung von russischem Erdgas nach Europa mit den westlichen Sanktionen gegen Russland. Russland bleibe „ein sehr wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Energiesicherheit“, sagte Peskow. Angesichts der Bedenken in Europa, dass Russland die Gaslieferungen weiter einschränken könnte, verwies Peskow auf die früheren Äußerungen von Präsident Putin. Gasprom werde Verpflichtungen gegenüber Kunden immer erfüllen.

Putin hatte allerdings am Dienstag damit gedroht, die Durchleitung durch „Nord Stream 1“ auf 20 Prozent oder 33 Millionen Kubikmeter täglich zu senken, wenn die Turbine bis nächste Woche nicht wieder eingebaut ist. Als Begründung nannte er, dass dann noch ein weiteres Aggregat in die Reparatur müsse und die Leistung dadurch gemindert werde.

Die besagte Turbine war in der Ostsee-Pipeline „Nord Stream 1“ im Einsatz, wurde aber routinemäßig in Kanada gewartet. Wegen der Sanktionen gegen Russland verblieb sie dort, man wollte das Gerät nicht nach Russland ausführen – was der Kreml zum Anlass nahm, die Lieferungen zu drosseln.

Außenpolitikreporter Fritz zu „Nord Stream 1“

ORF-Außenpolitikexperte Peter Fritz spricht unter anderem über von der OMV abgeschlossene Gaslieferverträge mit Norwegen und den von der EU ausgearbeiteten Notfallplan, der Einsparungen beim Gasverbrauch vorsieht.

Weiteres Energiesparpaket für Deutschland

Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wies Russlands Äußerungen zurück, das Land sei Garant der Energieversorgung in Europa. „Das ist eine Verdrehung jeder Tatsache“, sagte Habeck. Russland nutze seine Macht, um Deutschland und Europa zu erpressen, „und erweist sich jeden Tag als unsicherer Kantonist bei der Energieversorgung in Europa“.

Der deutsche Wirtschaftsminister kündigte am Donnerstag ein weiteres Energiesparpaket an. Als einen Teil seiner Maßnahmen will Habeck die Speicherstände der Gasspeicher gegenüber den bisherigen Vorgaben um fünf Prozentpunkte erhöhen – zum 1. September auf 75 Prozent, zum 1. Oktober auf 85 Prozent und zum 1. November auf 95 Prozent. Damit solle verhindert werden, dass aus den 23 Speichern in Deutschland Gas verkauft werde. Per 1. Oktober soll auch die Braunkohlreserve aktiviert werden, bisher ist das bereits bei der Reserve bei Steinkohlekraftwerken der Fall.

Überdies will der Minister per Verordnung Unternehmen zum Energiesparen verpflichten. So sollen etwa Räume, in denen sich Menschen nicht länger aufhalten, wie Flure oder Eingangsfoyers, im Winter nicht geheizt werden. In privaten Haushalten sollen Mieterinnen und Mieter von der Pflicht entbunden werden, ihre Wohnung auf eine Mindesttemperatur zu heizen. Zudem soll es untersagt werden, dass Hausbesitzer „über diesen Winter“ private Pools mit Gas beheizen.

Hohe Abhängigkeit von russischem Erdgas

„Nord Stream 1“ verläuft von Wyborg nahe St. Petersburg in Russland unterirdisch durch die Ostsee ins deutsche Lubmin, von wo aus das Gas auch in andere europäische Staaten weitergeleitet wird. Die Kapazität der Röhren beträgt 55 Mrd. Kubikmeter pro Jahr – was mehr als der Hälfte des jährlichen deutschen Gasverbrauchs entspricht. Nach Mineralöl ist Erdgas in Deutschland der zweitwichtigste Energieträger.

Trotz Gaslieferungen aus anderen Ländern wie Norwegen und den Niederlanden, Flüssiggasimporten sowie Sparkampagnen sind Deutschland und seine Industrie nach wie vor von russischen Gaslieferungen abhängig. Vor allem will man die Speicher mit Blick auf den Winter speisen, die derzeit zu etwa 65 Prozent gefüllt sind. Das wäre ohne russisches Gas kaum möglich.

Auch OMV erhielt wieder mehr Gas

Russlands Energieriese Gasprom pumpt nach der Wiederinbetriebnahme von „Nord Stream 1“ auch weiter Gas durch die Ukraine nach Europa – trotz des Krieges dort. Die für Donnerstag vereinbarte Liefermenge liege bei 42,2 Millionen Kubikmeter, teilte der Staatskonzern der russischen staatlichen Nachrichtenagentur TASS zufolge mit. Das waren 2,1 Millionen Kubikmeter mehr als am Vortag, aber kaum die Hälfte des möglichen Umfangs.

Gas über die Ukraine fließt etwa über die „Progress“-Pipeline, die sich in der Westukraine teilt und dann über einen Strang über die Slowakei auch die OMV versorgt. Der teilstaatliche Konzern hat auch mehr Gas erhalten. Gasprom habe bestätigt, dass rund die Hälfte der vereinbarten Gasmenge am Donnerstag fließen soll, hieß es von der OMV zur APA.

Donnerstagabend bestätigte die OMV, dass Gasprom seine Zusage eingehalten und vereinbarungsgemäß geliefert habe. Damit kehre man auf das Niveau von vor der „Nordstream“-Wartung zurück. Während der Wartungspause hatte die OMV nur ein Drittel des bestellten Gases aus Russland bekommen.

Expertin: Russland ebenso von Gas abhängig

Die deutsche Energieökonomin Claudia Kemfert sieht in der wieder angelaufenen Gaslieferung einen Beleg für die russische Abhängigkeit von Gasexporten nach Europa. „Dass Russland wieder Gas liefert – wenn auch gedrosselt –, schafft für den deutschen Gasmarkt Entspannung. Es ist aber auch Ausdruck davon, dass Russland den Bogen nicht überspannen kann, insbesondere aus wirtschaftlichen, aber vor allem politischen Gründen“, sagte die Energieexpertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) der „Rheinischen Post“ (Freitag-Ausgabe).

„Das Verhalten Russlands zeigt, wie abhängig Russland selbst von den Gasverkäufen nach Europa ist.“ Laut Kemfert würde ein kompletter Lieferstopp erhebliche Einnahmeverluste für Russland bedeuten. „Dieses Risiko kann Russland nicht eingehen.“

Gaspreise gefallen

Nach der Wiederaufnahme der Gaslieferungen aus Russland sind indes die Gaspreise gefallen. Der europäische Future notierte am Donnerstag 7,7 Prozent niedriger bei 149 Euro je Megawattstunde.